Andreas Pflüger schickt blinde Superheldin ins Rennen
Sie heißt Jenny Aaron. Sie ist blind und die deutsche Antwort auf James Bond. Hauptfigur in Andreas Pflügers Thriller ENDGÜLTIG. Es ist wirklich lange her, dass ich ein Buch mit derart nägelkauender Spannung gelesen habe. Fast nichts ist schwerer, als nur mit Worten Action so zu beschreiben, dass in der Phantasie des Lesers Szenen von filmischem Format entstehen. Den Worten fehlen Sound, Bild, Licht, Dunkel, nervenfetzende Musik – alles unmittelbar die Sinne Erregende und Aufpeitschende.
Andreas Pflüger ist Drehbuchautor. Die Liste der Tatorte, die er seit 1994 geschrieben hat, ist ellenlang. Nach dem Spionagethriller OPERATION RUBIKON von 1994 – eine der eindringlichsten Darstellungen deutscher Geheimdienstabgründe – ist ENDGÜLTIG erst sein zweiter Roman.
Es beginnt in Barcelona. Aaron und Kvist, Top-Agenten der „Abteilung“, die noch geheimer, hinterhältiger und kampferprobter ist als die GSG 9, geraten bei einer Lösegeldübergabe in eine mörderische Schießerei. Jenny Aaron lässt ihren Geliebten Kvist schwer verletzt zurück. Verfolgungsjagd. Bei 260 km/h schießt ihr der Supergangster Holm in den Kopf. Eine ganz einfache Szene. So schlicht, dass nicht einmal der mit den längst zur Masche gewordenen Krimi-Prologen vertraute Leser vermutet, dass in ihr der Schlüssel zum Konflikt verborgen ist. Pflüger versteckt Sinn in Handlung.
Fünf Jahre später schüttet die ehemalige Top-Agentin, jetzt Vernehmungsspezialistin beim BKA, im Flugzeug nach Berlin ihrem Sitznachbarn versehentlich Kaffee über die Hose. „Sind Sie blind?“ flucht der. „Ja.“ Pflüger ist für seine Recherchen in die Blindenschule gegangen. Eine geniale Plot-Idee: Im Dunkel der Blindheit haben die Leser mehr Angst als die Heldin. Denn eine Heldin ist sie: Schön, schlau, kampfstark wie Peter O’Donnells unsterbliche Modesty Blaise, fitter als James Bond und leidgeprüft.
Was Bond erst ab der einundzwanzigsten Verfilmung bekam – eine Biographie der Verluste – bringt Jenny Aaron mit. Gemessen wird sie an ihrem Vater, dem besten Mann der GSG 9, Kontur gewann sie, indem sie sich verwundet aus dem Keller eines Serienmörders befreite – jetzt stößt sie in Berlin, als sie den Tod einer Gefängnispsychologin untersuchen soll, auf Spuren, die in ihre Vergangenheit zurückführen. Nach und nach schält sich ihr Widersacher aus den Schlieren des Vergessens. Denn obwohl Jenny trotz ihrer Blindheit besser schießt und kämpft als jeder andere (Mann) – Pflüger entwirft bewundernswert choreographierte Szenen, berauschend eine Verfolgungsjagd auf gefrorenen Straßen, bei der Jenny den Wagen nach den Anweisungen eines schwer verletzten Kollegen lenkt – leidet sie unter psychisch bedingtem Gedächtnisverlust.
Warum hat sie ihren Geliebten in Barcelona im Stich gelassen? Das wird sie, das werden die Leser nur erfahren, wenn sie dem Weg des Kriegers Bushidō treu bleibt. Hoffentlich über das atemraubende Finale von ENDGÜLTIG hinaus.
Dieser Beitrag ist zuerst in der ZEIT 11/2016 am 3.März 2016 erschienen und stand seit März 2016 dreimal auf der Krimibestenliste
Andreas Pflüger: Endgültig
Suhrkamp, Berlin 2016, 459 Seiten