DIE KRIMIBESTENLISTE FEBRUAR: Vier Neue aus den USA und Frankreich, darunter zwei Oldies
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
An erster Stelle der vier neuen Titel im Februar 2023 steht ein Noir aus der hellsten denkbaren Ecke: AUS DER BALANCE von Megan Abbott. Charlie, Marie und Dara haben von ihren mit dem Auto verunglückten, ewig zerstrittenen Eltern (Selbstmord?) eine Ballettschule und ein altes Haus geerbt, die sie gemeinschaftlich bewohnen und betreiben. Ein Brand im Balettstudio ruft Bauunternehmer Derek auf den Plan. Unter dem Zeitdruck der Proben zur jährlichen Vorstellung von Tschaikowskis Nussknacker soll renoviert werden. Aber statt zu klempnern und zu zimmern, dringt der vitale Derek wie ein Brecheisen in die bis dahin halbwegs intakte Dreieckskonstallation der Studiobesitzer mit ihren jeweiligen Malessen und Phobien ein. Außerdem verwandelt sich durch die großartige Renovierung die Schule nach und nach in eine Ruine…
Megan Abbott, 1971 in Detroit geboren, hat bisher 10 Kriminalromane verfasst, zwei davon sind auf Deutsch erschienen, der dritte soll wie AUS DER BALANCE bei Pulp Master erscheinen. Unterfüttert mit der Gewaltsamkeit des schonungslosen Balletttrainings und der damit verbundenen Auslese der Eleven, steigert Abbott genüsslich den schwelenden Kontrast zwischen höchster Künstlichkeit und animalischer Energie über viele kleine Katastrophen und Enthüllungen bis zum großen Blow. Schön, dass Abbott endlich einen deutschen Verlag und mit Karen Gerwig und Angelika Müller eine adäquate Übersetzercrew gefunden hat, die ihrer gnadenlosen Feinheit gewachsen ist. THE TURNOUT heißt das Buch im Original. Versuchen Sie mal, diese balletöse Verrenkung von Becken und Beinen nachzuahmen, dann lernen Sie etwas über die Qualen künstlerischer Höchsteistungen.
Kenneth Fearings DIE GROSSE UHR von 1946 ist einer der beiden exentrischen Oldies auf der Februarliste. Erstaunlich: mehrfach verfilmt, im Englischen seit 1947 immer lieferbar, wurde die Story vom Zeugen, der sich selbst als Mordverdächtingen sucht, zuvor noch nie ins Deutsche übersetzt. Dem Herausgeber Martin Compart und dem Elsinor-Verlag ein Kompliment für ihr Händchen!
Neben der sich ziemlich geradlinig zuziehenden Schlinge, in der sich der Journalist, Womanizer, Trinker und Hasardeur George Stroud verheddert, ist das Spannende an diesem Roman der Einblick in das brodelnde New York der Kriegs- und Nachkriegszeit: ungehemmter Alkoholismus, der Krieg zwischen Qualität und Kommerz im Journalismus, Homosexualität.
Und, außergewöhnlich für einen Roman noir, die beinahe surrealistische Konfrontation von exotischer Kunst und kapitalistischer Monotonie, zusammengepresst im Bild der Großen Uhr, die das Leben ticken lässt und vertickt. Kein Wunder, kommt doch der 1902 geboren und 1961 verstorbene Kenneth Fearing von der Lyrik her. Die amerikanische Literatur verdankt diesem ewigen Bohemien eindrucksvolle Gedichte aus der Großen Depression.
Aus Joe R. Lansdales MOON LAKE spricht eine nur mühselig gedämpfte Wut über den Rassismus, speziell in Ost-Texas. In klaren Linien konfrontiert er eine solidarische Welt der am Rande geduldeten Schwarzen mit einer hass- und angsterfüllten Gewaltzone der Weißen. 1968 überlebt der damals 14-jährige Daniel Russell den Sturz des väterlichen Autos in den neuen Stausee nur knapp. Er wächst unter den strengen Hand seiner Tante auf, wird Journalist und Schriftsteller, bis das Wiederauftauchen der väterlichen Leiche ihn 1978 zurück nach New Long Lincoln ruft. Der Ort, aus den Tiefen des Moon Lake umgesiedelt, ächzt unter der Knute einer verschworenen Clique von Weißen, die alles und alle mit sadistischen Voodoo-Ritualen und mafia-ähnlichem Terror beherrschen. Wie er nur allzu schnell bemerkt, soll Daniel dazu missbraucht werden, deren Herrschaft zu erschüttern. Lansdale, der schon immer literarisch zwischen Horror und Crime changierte, bringt hier beide Ströme seines Schaffens zusammen, wortwörtlich: Große Teile des Geschehens spielen sich im versunkenen Dorf unter Wasser ab.
Der zweite Oldie unseres Februar-Angebots gehört zu den avantgardistischsten Büchern, die seit 2005 auf unserer Bestenliste standen. Erlauben Sie mir, werte Leserinnen und Leser, daher einen etwas längeren Versuch der Interpretation: EINIGE EINZELHEITEN ÜBER DIE SEELE DER FÄLSCHER ist in Aufbau und Struktur schwer durchschaubar, changiert zwischen verschiedenen Realitäts- und Erfindungsebenen sowie Erzählformen. Sehr vereinfacht gesagt, protestiert der 1950 vermutlich in Chalon-sur-Saône geborene Autor Antoine Volodine mit seiner Literatur gegen Konsumismus, Materialismus, bürgerliche Gesellschaft. Der Ruf der Pariser Studenten von 68 „Die Phantasie an die Macht“ könnte auch sein Schlachtruf sein, wüsste er nicht allzu genau, dass die Macht ein „Schweinesystem“ ist, in dem die Schweine, ihre Hüter wie auch ihre Besitzer gemeinsam an dessen Aufrechterhaltung interessiert sind. Dagegen setzt er eine Literatur der Ungewissheit, die er Volodine in theoretischen Schriften wie auch im vorliegenden Roman sowohl praktiziert als auch propagiert.
In EINIGE EINZELHEITEN ÜBER DIE SEELE DER FÄLSCHER ist jedenfalls die Phantasie nicht an der Macht. Sie ist vielmehr ein Fluchtweg ohne Ziel, ein monströser, ausgeklügelter, verschlüsselter Widerstand gegen die Macht des Faktischen, eine mühsame gebändigte Orgie des Anrennens gegen das Absurde und die Niederlage, die nicht nur die Aktionen der RAF waren, sondern die das Leben selbst ist. Der Roman ist 1990 erschienen, wurde 1992 ins Deutsche übersetzt, aber erst jetzt in der ruhmvollen Edition Converso veröffentlicht. Dazu mehr im instruktiven Nachwort des Herausgebers und Übersetzers Holger Fock.
Die Protagonisten, ein BKA-Mann und eine RAF-Terroristin, rechtfertigen allein noch nicht die Aufnahme dieses exzentrischen Buches in die Krimibestenliste. Die beiden befinden sich, wie damals viele Flüchtlinge aus Nazideutschland, am Rande Europas, in Lissabon (LISBONNE DERNIÈRE MARGE lautet der Originaltitel). Kurt Wellenkind (BKA) hat sich in Ingrid Vogel (RAF) verliebt, ihr unter Beschaffung einer Ersatzleiche zur Flucht verholfen, zu der sie in wenigen Tagen weiter Richtung Asien starten wird. In der Zeit bis zu ihrer endgültigen Flucht (es bleibt offen, ob sie sie antritt) flanieren die beiden durch das Lissabon nach der Nelkenrevolution, vögeln und reden. Wobei, wie bei den meisten Gesprächen, das meiste ungesagt bleibt. Das Gedachte steht in dem, was wir lesen können: einer Rahmenhandlung und einem Roman im Roman. Denn Ingrid Vogel hat einen Schlüsselroman über ihre terroristische Vergangenheit und die Gesellschaft im Kopf, den sie während der Gespräche mit Kurt, ihrer „Dogge“, ihrem „Bullenschwein“ weiterspinnt. Sein Titel: EINIGE EINZELHEITEN ÜBER DIE SEELE DER FÄLSCHER.
Und der entspricht dem Konzept von Literatur, das Antoine Volodine verfolgt. Hier sei nur ein Aspekt dieses literarischen Wunderwerks hervorgehoben. Bekannte Realitätsbezüge des Krimis (Verfolgung, Polizei, Verbrecher, Jagd, Flucht, Verschlüsselung, Waffen, Täuschung, Fälschung usw.) sind ihrer gewohnten kriminellen Verweise entkleidet und als Signale für etwas anderes versetzt in ein fremd-verwandtes Zeichensystem literarischer Fehden zwischen Kommunen, deren Kampfnmen denen realer Terroristen ähneln: Waltraud Scholl, Katalina Raspe. Das hat nur dem Anklang nach noch etwas mit der ursprünglichen Verbindung der kriminellen Topoi mit der ausgedachten, uniformierten, „sozialdemokratischen“ Realität zu tun des Romans.
Ingrids Schlüsselroman darf insbesondere von den Literaturkritikern der Fahndungsbehörden nicht verstanden werden. Ingrid soll ja spurlos verschwinden. Und doch sollen die Rahmenhandlung – die Flüchtlingsgespräche in Lissabon – wie der Schlüsselroman alles das enthalten, was Ingrid und Volodine über ihre Aktionen als Terroristin zu sagen haben. Bloß als eine andere Art der Wahrheit, einer literarischen.
Das (eh schon konstruierte) Versprechen des klassischen Detektivromans, der Leser solle, sei er denn schlau genug, alle Ermittlungsschritte des Detektivs nachvollziehen können, wird vollends konterkariert. Ob der Leser in EINIGE EINZELHEITEN ÜBER DIE SEELE DER FÄLSCHER überhaupt Zusammenhänge erkennt, hängt ausschließlich von seiner eigenen künstlerischen Imagination ab. Ob sie den Pamphleten, Schaggås (Volodine hat sogar eine eigene Literatur dieses Namens erfunden), Fabeln und Literaturfehden, die Ingrid/Volodine uns auftischen, einen Sinn abgewinnen kann, liegt bei der Leserin selbst.
Das ist der Antikrimi schlechthin: keine Aussage über Verbrechen und Wirklichkeit, reine finstere Fiktion. Selbst der Mythos der RAF, der wie ein versteinerter Tumor in der Gesellschaft steckt, wird in die Luft der Literatur aufgelöst. Das ist Volodines Kunst: wer ihm auf seinen ausgeklügelten Pfaden folgt, bekommt das Gehirn durchgepustet, eine Ahnung, was Freiheit sein könnte.
Die Krimibestenliste Februar ist seit Freitag, dem 3. Februar, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Die Rezensionen sind auch online nachzulesen. Am Freitag morgen hat Kolja Mensing bei Deutschlandfunk Kultur über AUS DER BALANCE als höchsten Neueinstieg der Februarliste gesprochen.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und sehr oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Wintertage!
Ihr Tobias Gohlis