Vier neue Titel: je einer aus Frankreich, der Schweiz, Deutschland und Israel. Die Schauplätze: Paris, Planay, Zermatt, Val d’Anniviers, Basel, Stuttgart, Todtnauberg, Autokratie in Osteuropa, Israel.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit 24 Monaten.
Platz Eins im Dezember:
Neu auf der Krimibestenliste:
3 Der Beifahrer (La Place du Mort)
Über fünfundzwanzig Jahre alt, von einem verstorbenen Autor, und dennoch eine Entdeckung: DER BEIFAHRER von Pascal Garnier (1949 – 2010). Garnier war ein vielseitiger Künstler, Autor zahlreicher Kinder- und Jugendbücher (wie Friedrich Ani oder Garry Disher) sowie von fünfzehn Kriminalromanen. Der österreichische Verlag Septime will seine Noirs nach und nach veröffentlichen – bisher sind, mit dem BEIFAHRER – meines Wissens nur zwei ins Deutsche übersetzt. Das lässt gigantische Lesefreuden knallharter Bücher erwarten.
DER BEIFAHRER , 1997 erstmals veröffentlicht, ist mit 139 prall mit Tristesse, schwarzem Humor, Einsamkeit und Tod gefüllten Seiten knackig kurz – kein Wort zu viel. Was Fabien macht, wovon er lebt, erfahren wir nicht. Als seine Frau bei einem provozierten Autounfall ums Leben kommt, zieht er zu seinem Freund, ebenfals (Stroh-) Witwer – oder wie nennt man sitzengelassene Männer? – , hängt mit ihm im Bademantel am Fenster und schaut mit dessen kleinem Sohn Léo herab auf die Apothekerin mit Spitzname „Titten“. Das ist nur eine der grotesk komischen Szenen, mit der Garnier seine Krimi-Satire auf eine gelangweilte, genervte 90er-Jahre-Unwelt garniert.
Hier finden Sie die Besprechung von Thomas Wörtche vom 1. Dezember.
4 Kreuzschmerzen
Als ich KREUZSCHMERZEN zum ersten Mal las, war ich begeistert: der Debüt-Roman einer 1998 geborenen, mithin 25-jährigen Schweizer Autorin, die sich geradezu unverschämt frech mit antiklerikalen Lesefrüchten spreizt. (Samt Anmerkungen, was einem Roman selten gut tut, aber zum Selbstbild der Hauptfigur passt, einer, vom erzkatholischen Vater vergewaltigten Trucker-Tochter namens L. mit Kunstgeschichts- und Archäologiestudium, die Kirchenraub begeht und so arrogant daherkommt, dass sich selbst Bergsteiger-Kolosse wie ihr Kumpel Jorne demütig vor ihr ducken.) Polizeilich gesucht, angespornt durch ein riesiges Erfolgshonorar, rücken L. und Jorne zum letzten Mal aus, um aus einem Bergkloster im Wallis einer Gruppe teils sehr brustbehaarter Nonnen ein frühchristliches Kreuz zu klauen, das auf dem Schwarzmarkt unter Sekten Höchstpreise erzielt. Zwar gelingt es ihnen, den mit tödlichen Sicheln um sich schlagenden Glaubensschwestern zu entfliehen. Aber sie werden getrennt. Kurz vor dem Erfrieren wird L. gerettet von einem Trucker (KREUZSCHMERZEN strotzt vor Trucker-Obsessionen), der in seinem Kühllaster Schnittblumen der besonderen Art transportiert.
Nichts für schwache Nerven, da traut sich jemand was, aufregende Stimme, dachte ich und stöberte im seit drei Jahren geführten Autorinnen-Blog (mitsamt Fotos vom Hund) und anderen Internetquellen herum.
Und stieß, zwei Tage vor Veröffentlichung dieses Newsletters, angeregt durch ein Jurymitglied, auf einen Kommentar in einem Krimiportal. Da vermutet ein „C.Strasser“, hinter dem Pseudonym der Autorin „Maren Lassander“ stecke Thor Kunkel. Der Roman KREUZSCHMERZEN beruhe auf dessen Roman „Und Gott sagte nein“, der 2018 hätte erscheinen sollen, aber wegen Kunkels Umtrieben im AFD-Milieu nicht veröffentlicht wurde. Gerüchte, Fake-Identitäten.
Christian Strasser ist Verleger der Europa-Verlags, zu dessen Imprints auch Golkonda gehört, der Verlag, in dem KREUZSCHMERZEN erschienen ist. Am Telefon will er das von „C. Strasser“ aufgebrachte Gerücht, Lassander sei Kunkel, „nicht bestätigen“, und auf die plagiatsverdächtigen Ähnlichkeiten zwischen beiden Romanen hingewiesen: „An derartigen Spekulationen beteilige ich mich nicht. Kann ja sein, dass eine junge Autorin irgendwo auf das Manuskript von ‚Und Gott sagte nein‘ gestoßen ist und davon abgeschrieben hat.“ Sagt der Verleger von „Maren Lassander“ und – Thor Kunkel. Er habe das Manuskript von einer Schweizer Autorin angeboten bekommen.
„Lassander“ in ihrem Blog:
„Ich selbst wollte schon immer eine schreibende Romanfigur sein. Wieso sollte eine Schriftstellerin etwas anderes sein als eine Fiktion? Eine, die sich zu den Verschriebenen zählt, muß selbst «Reflexionsgestalt» sein, es reicht nicht aus, sich hinter seinem Personal zu verstecken.
Meine Entscheidung, anonym zu bleiben, hängt auch mit meiner Erfahrung zusammen, bei der Beurteilung von Romanen geht es im Kulturbetrieb neuerdings mehr um Reputation und Aussehen als um das geschriebene Wort.“
Eine Werbestrategie, um Aufmerksamkeit zu generieren? Braucht KREUZSCHMERZEN nicht.
5 Tanz oder stirb
Uta-Maria Heim ist, obwohl gerade mal sechzig, eine der dienstältesten Autorinnen von komplexen (Kriminal-) Romanen. Sie kreisen meist um das Themenviereck Heimat (Schwaben, Baden, Württemberg), deutsche Literatur (Hölderlin, Heidegger), Zeitgeschichte (Nationalsozialismus, RAF-Terrorismus) und Familienverzwickungen. Wenn ich richtig gezählt habe: seit 33 Jahren 31 Romane und Erzählungen, drei Gedichtbände; zwei Deutsche Krimipreise, ein Glauserpreis, etliche Auszeichnungen und Stipendien, dabei berufstätige Mutter und Hörspieldramaturgin. Chapeau!
Jetzt mit TANZ ODER STIRB der Beginn einer neuen Serie um die selbst traumatisierte Traumatherapeutin Nuria Haas, sesshaft in Stuttgart. Um die vier bekannten Themenkreise, dazu das Ballett (Stuttgarter Schule, Cranko) spinnt Heim ein gewagtes Garn.
Da geht es zuerst um Nurias eigene Familie und ihr persönliches Trauma. Wer hat sie als Säugling vor die Kirchentür gelegt? Welche Rolle spielten Pflegefamilien, Versorgungsämter, Auftraggeber, Klienten bei ihrem, beim Schicksal von toten Kindern in der Ballettschule? Dort, wohin Nuria ihre Tochter schicken will und ihre leibliche Mutter erschlagen vorfindet? Was haben Hannah Ahrendt, Patti Smith und Martin Heidegger mit dem bundesdeutschen Verfassungsschutz zu tun? Aus der Stuttgarter Nussschale die Welt.
Niemand in der deutschen Krimiszene spannt den Bogen so weit wie Uta-Maria Heim.
10 Schwachstellen (Megale HalChulschot)
Natürlich liest man diesen 2022 verfassten Roman über ein privates, staatlich unterstütztes Überwachungsunternehmen und einen naiven, moralisch schwächlichen Hacker unter dem Eindruck des Überfalls der Hamas auf Israel und das klägliche Versagen seiner Politik und Geheimdienste. Anlehnungen an das mit israelischer Genehmigung weltweit auch an Autokraten verkaufte Spionagesystem „Pegasus“ stellen sich ein, sind von Autor Yarid Sharid auch gewollt.
Sharid wurde hierzulande mit bisher vier Romanen bekannt, die höchst spannend die Grauzonen zwischen persönlicher und öffentlicher Moral, israelischer Sicherheitsdoktrin und privater Opferbereitschaft ausloten und fiktional zuspitzen.
Jung-Siv steckt mitten in diesem Konflikt. Darf er eine Spionagesoftware, die jeden einzelnen zu überwachen vermag und in jede Privatsphäre dringt, im Dienst einer Autokratie zur Unterdrückung der Bevölkerung einsetzen, aber auch zum Schutz seiner drogenkranken Schwester vor dem kontrollierenden Staat zu Hause?
Lesen Sie SCHWACHSTELLEN und zum aktuellen Zusammenhang zwischen Protestbewegung, „Justizreform“ und israelischer Sicherheit das Interview, das Tessa Szyszkowitz im FALTER mit Yashid Sarid geführt hat. Sarid: „Der Wunsch nach Frieden wurde ermordet.“
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE DEZEMBER?
Die KRIMIBESTENLISTE DEZEMBER ist seit Freitag, dem 1. Dezember 2023, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Als zweiseitiges PDF vom Deutschlandfunk Kultur gibt es die KRIMIBESTENLISTE DEZEMBER hier.
Kolja Mensing hat hier über die Krimibestenliste Dezember gesprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 1.12., hat Thomas Wörtche, ehemals Mitglied der Jury, den höchsten Neueinstieg DER BEIFAHRER besprochen.
Kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Dezember. Ebenfalls zu finden ist sie unter krimikritik.com/news .
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Wie immer wird es zum Jahresende eine Auswahl der Auswahl, die ZEHN BESTEN KRIMIS 2023 geben. Die KRIMIBESTENLISTE 2023 erscheint am 15. Dezember. Am gleichen Tag sendet der Deutschlandfunk Kultur ein Gespräch über das Krimijahr 2023 und seine Früchte.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Adventstage!
Ihr Tobias Gohlis