Dror Mishani lässt Avi Avraham in seinem vierten Fall ins Leere stoßen
Den Leserinnen und Lesern von Dror Mishani ist Inspektor Avi Avraham seit drei Büchern vertraut, ein leiser, gefinkelter Ermittler, der schlauer sein will als die Kriminalromane, die er gelesen hat und immer noch den Idealen nachhängt, die er beim Eintritt in den Polizeidienst hegte: „Leben retten und Grausamkeit, Gewalt und das Böse bekämpfen.“ Aber im vierten Roman VERTRAUEN wird er gleich mit zwei Fällen konfrontiert, in denen ihm das alles nichts hilft. Denn beide Fälle entziehen sich seinem Zugriff.
Die aggressive mittelalte Dame, der vorgeworfen wird, im Einkaufszentrum in der Nähe des Krankenhauses ein Baby ausgesetzt zu haben, bestreitet alles. Dass sie es ausgesetzt hat, dass es ihres ist, sie stellt sich dumm und nervt das Revier.
Der zweite Fall scheint erst recht keiner zu sein: Aus einem Hotel in Strandnähe ist ein Gast verschwunden, Zimmer bezahlt, Koffer zurückgelassen. Avi überlässt den Kleinkram – das ausgesetzte Baby, die ältere Dame – seinen Kollegen und wittert im Hotelgastproblem das große Verbrechen mit Geheimdienstfaktor, das endlich seinem kriminalistischen Spürsinn gewachsen ist.
Warum Dror Mishani, seit seinem Roman DREI von 2019 endgültig Weltklasse, diesem den Titel VERTRAUEN gegeben hat, erschließt sich erst im Nachhinein. Oberinspektor Avraham wühlt sich, angespornt vom Ehrgeiz, durch Fitzelchen sich übersteigender Vermutungen, um den Verdacht zu erhärten, sein inzwischen als Leiche angeschwemmter Hotelgast aus Paris sei Geheimdienstagent. Derweil bohrt sich seine Kollegin durch einen Verhau von Lügen, um einem Abtreibungsversuch und einer Vergewaltigung auf die Spur zu kommen. Hinter beiden, mit israelischem Alltag, Religion und ethnischen Verwerfungen gespickten Fällen drohen im Hintergrund der heillose arabisch-jüdische Konflikt. Zusammengeführt werden sie durch Zufall: Avi muss nach Paris, um dort offiziell im Baby-Fall und inoffiziell im Hotelgastfall zu ermitteln.
Beide, die streitbare Dame wie der mögliche Agent, sind verraten worden, ihr Vertrauen wurde tief getäuscht. Und Avi traut seinem Staat nicht mehr. Und dennoch beruhen Gesellschaft und Zusammenleben auf Vertrauen, darauf, dass nicht gelogen, nicht getäuscht wird. Mishani lässt offen, muss offen lassen, wie weit das trägt. Aber das Baby, das allem und allen zum Trotz überlebt, wird „Emunah“ genannt. Das bedeutet auf Hebräisch ebendies: „Glaube, Vertrauen“. Mishani verfasst Kriminalliteratur an den moralischen Grenzen, also dort, wo sie sein sollte.
Dieser Beitrag wurde am 27.5.22 im Deutschlandfunk Kultur gesendet.
Dror Mishani: Vertrauen
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Diogenes, Zürich 2022, 351 Seiten