Das ideale Buch für eine Grippe: vier Tage Abtauchen in die Welt des Ersten Kaiserreichs. Mit leichtem Fieber.
1805 in Paris. Es stinkt bestialisch. In der Seine wird der Torso einer Sechzehnjährigen gefunden, in deren Vagina ein merkwürdiges Kreuz. Kurz vor ihrem Tod hat sie entbunden. Kommissar Marais (=“ der Sumpf“) ist von Polizeiminister Fouché aus Brest zurückgeholt worden; er glaubt, Gott habe ihn beauftragt, Großes zu tun. Da Marais nicht weiterkommt, sucht er bei dem Mann Unterstützung, der sich mit außergewöhnlichem Sex, verborgenen Umtrieben und Blasphemie auskennt: Marquis de Sade.
Die beiden ungleichen und antagonistischen Detektive – Sade ist Atheist, bisexuell und hoch adlig, Marais ist gläubig, prüde und halber Gitan – stolpern recht schnell in die Untiefen einer Zeit, in der Wissenschaft und Aberglaube, Feudalismus und Gleichheitsutopien, alter und napoleonisch neuer Adel, förmliche Rechtsstaatlichkeit und Clan-Intrigen durcheinander schwirrten.
Ulf Torreck, den etliche tausend ebook-Leser als David Gray kennen, hat einen Sinn für starke Bilder: Den von lebenden Schmettterlingen, künstlichen Insekten und tropischen Pflanzen überwucherten Prachtsaal des 94jährigen Comte Solignac d’Orsay, der früher de Sade geliebt und später mit Hass verfolgt hat, wird man so wenig vergessen wie General Sternwoods überheiztes Glashaus in Chandlers Der große Schlaf. Tropische Schmetterlinge ( im Winter!) sind es auch, die die beiden Detektive zu der Kapelle führen, in der der gläubige Marais den Kultort eines satanistischen Ordens zu finden glaubt. De Sade ist da sehr viel skeptischer. Er fürchtet weder Teufel noch Gott, aber das Diabolische im Menschen.
Fest der Finsternis ist ein mit Lust ausgedachter, in Mythen und Maskierungen schwelgender, historischer Serienkiller-Roman und Politthriller, über weite Strecken fesselnd mit anschaulichen Szenen aus allen Gesellschaftsschichten.
Zum Glück lässt sich Torreck von seiner Leidenschaft zum historischen Großgemälde nicht den Plot aus der Hand reißen, er ist verwirrend genug.
Richtig Spaß macht es, den Roman als Gegenentwurf zu Dan Browns Sakrileg zu lesen. Denn Torreck folgt der Spur seines Satanisten-Ordens nur bis an die Grenze der Wahrscheinlichkeit, nicht wie Dan Brown mit seiner ähnlich angelegten Prieuré de Sion über jeden historischen Sinn hinaus. Kühl führt Torreck das wahnwitzige mörderische Geschehen zurück in den ungleich wahnwitzigeren Raum realer Geschichte, in dem sich Machtgier, enthemmte Naturwissenschaft und wüster Aberglaube treffen.
Besonderes Vergnügen bereitet Torrecks Darstellung des „alten Ungeheuers“ de Sade. Krank, fett, verfressen, eitel und arrogant, ein zerfallenes Prachtexemplar von Libertin und Verkörperung des Ancien Régime, zugleich aber stolz, mutig, generös und scharfzüngig, ein Menschenkenner von Gnaden und unerschütterlicher Kämpfer. Dieser Sade ist in seiner Hochfahrenheit liebenswert – und findet deshalb auch die Anerkennung seiner Mitstreiter, seien es Prostituierte, Zigeuner oder gläubige Polizisten wir Marais.
Nur beide zusammen können sich in dem lebensgefährlichen Machtkampf zwischen Polizeiminister Fouché und Außeniminister Talleyrand behaupten, in dem sie die Katalysatoren, nützlichen Idioten und Marionetten spielen.
Kurz, auch wer nicht ins Bett muss, kann erheblichen Lesegenuss an Torrecks Fest der Finsternis haben, gerade weil er mit religiösem Verschwörungsschwachsinn nur spielt. Ein aufklärerisches Buch also, zumal es den Marquis in freundliches Licht rückt.
Ulf Torreck: Fest der Finsternis
Heyne Hardcore, 670 S. 14,99 €
Die Vorgeschichte Vor der Finsternis gibt es als ebook 11,99 €
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