Jerome Charyn und Isaac Sidel – der Autor und sein Cop
Im Oktober 2013 war ich bei Jerome Charyn in Manhattan zu Besuch. In Deutschland war nach 12jähriger Pause wieder ein Sidel-Roman erschienen: Unter dem Auge Gottes. Der folgende Text ist erstmals im Krimispezial der ZEIT erschienen.
Er ist nicht in Paris. Vor Jahren hätte man ihn dort antreffen können, in einem Apartment mit Blick auf Montparnasse. Jetzt lebt Jerome Charyn wieder in New York. In Greenwich Village im zehnten Stock eines alten Apartmenthauses. Vom Dachgarten hat er weite Sicht über das südliche Mahnhattan. Es ist der 30. September, ausgerechnet der letzte Moment, an dem sich Republikaner und Demokraten noch auf einen Haushaltskompromiss einigen könnten. Am nächsten Morgen werden die Abgeordneten den Staat ins Koma des shutdowns versetzen. Während Charyn auf einem Tischchen Platz für Möhrenkekse schafft, knurrt er: »Die sind doch komplett verrückt! In mehr als fünfzig Jahren Schreiben bin ich nicht auf so etwas Wahnsinniges gekommen.«
Dabei ist in Jerome Charyns Fiktionen schlechthin alles möglich, auch der größte Wahnsinn.
Oder wie soll man das anders nennen, wenn Isaac Sidel, selbst ein Jude aus der Bronx und damals Deputy Chief Inspector der New Yorker Polizei, nicht nur seinen Schüler, den blauäugigen Polizisten Manfred Coen, umbringen lässt, sondern auch beinahe die ganze jüdische Familie Guzmann ausrottet? So geschehen, so blutig ausgemalt im ersten Band von Charyns Sidel-Saga, in Blue Eyes von 1975. Jetzt, beinahe vierzig Jahre später, am Ende des soeben auf Deutsch erschienenen elften Bandes mit dem Titel Unter dem Auge Gottes, wird Isaac Sidel, der den Guzmanns seinerzeit vorkam wie »der Würgeengel, den der Lord Adonai geschickt hat«, Präsident der Vereinigten Staaten sein.
Mit Isaac Sidel hat Jerome Charyn eine enigmatische Figur entworfen, von der mythischen Kraft eines Sherlock Holmes, einen zerrissenen Helden, passend zum Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts. »Je mehr er mordet, desto höher steigt er«, sagt Charyn. »Sidel ist so etwas wie ein Geist oder ein Gespenst, den unsere Welt hervorgebracht hat. Die Welt ist verrückt, und er hat was von ihrer Verrücktheit und jede Menge von ihrer Gewalttätigkeit. Aber Sidel glaubt auch an das Gute, besonders an die Armen. Er ist eine Art Mönch. Er hat 79 Dollar auf dem Konto. Er strebt nicht nach Reichtum, Geld nutzt er nur als Mittel zum Zweck. Keiner kann ihn kaufen.«
Das klingt eindeutig, aber Jerome Charyn gehört nicht zu den Autoren, die ihr Werk schlüssig interpretieren. Er ist als Gesprächspartner schwierig zu packen. Selbst einfache Tatsachenfragen lösen in dem Mann, der ursprünglich Maler werden wollte, Assoziationswellen aus. Nichts scheint hier fest. Der 76-jährige Charyn lebt in seiner Arbeitshöhle immer noch wie ein Einwandererjunge. Bildschirm und Laptop balancieren auf Konstruktionen aus Sperrholz. Zur winzigen Küche schlurft Charyn in blauen Filzpantoffeln auf einem schmalen Pfad zwischen halb ausgepackten Koffern und Stapeln aus Büchern und Papier. Er hat keine Zeit, innezuhalten und Ordnung zu schaffen. Seit Unter dem Auge Gottes 2012 herauskam, hat er bereits einen Roman über die Lyrikerin Emily Dickinson veröffentlicht, und vor wenigen Tage erst ist I Abraham
erschienen, weitere 460 Seiten, auf denen Charyn sich in das Chaos des amerikanischen Bürgerkriegs zurückimaginiert hat.
Während er Teeblätter aus dem Küchenregal klaubt, das mit gestapelten Medikamentenschachteln eher einem Apothekerschrank ähnelt, beantwortet Charyn die erste noch gar nicht gestellte Frage. »Kaum jemand versteht, worum es in der Kriminalliteratur geht. Alle denken, das sei eine Erzählform, in der Geschichten über Rätsel und ihre Auflösung erzählt werden. Dabei ist sie eine Raumbeschreibung, eigentlich ist sie Musik. Für mich beginnt sie mit Dashiell Hammett, mit seiner unglaublich genauen Alltagssprache, seiner hellen Wahrnehmung dessen, was Verbrechen ausmacht. Hammett hat als erster diese besondere Landschaft entworfen, er ist ein großer Erfinder wie Hemingway.«
Wir werden an diesem Septembernachmittag immer wieder auf das Schreiben zurückkommen, auf Isaac Sidel, den Polizisten, Mörder und Mafiafreund, auf die Kriminalliteratur, und auf Charyn selbst, der abwehrt, wenn ich ihn einen der wichtigsten Kriminalschriftsteller unserer Zeit nenne. Die Erinnerung an Hammett, das vermeintlich unerreichte Vorbild, hat Charyn in gedrückte Stimmung versetzt. Er kommt auf Michelangelos Selbstbildnis in der Sixtinischen Kapelle zu sprechen. Der Künstler als Märtyrer, der seine Haut vor sich herträgt. Das ist Charyns Vorbild. »Als Schriftsteller bleibt man immer ein Lehrling. Niemals erreicht man, was einem vorschwebt. Im besten Fall hast du dein Leben lang geschrieben, und es ist nicht mehr dabei herausgekommen als eine Landkarte deines Gesichts.« Was hätte er nicht alles noch machen wollen. Scheitern schwebt wie ein Schatten im Raum.
Charyn – der Einwandererjunge entwickelt die „kreative Halluzination“
Zwölf Jahre liegen zwischen dem zehnten und dem elften Sidel-Roman. Aber Charyn freut sich nicht über die gelungene Fortsetzung. Er fällt ins Sinnieren: »Vielleicht wäre es doch besser gewesen, nach Südamerika zu gehen.« In Paris kam er nicht mehr zum Schreiben. Stattdessen hat er täglich Tischtennis gespielt. Erst in New York lief es wieder, wohin er 2009 zurückgekehrt war nach vierzehn Jahren Lehrtätigkeit im Ausland. In den Annalen der American University of Paris, einer hoch angesehenen Privatuniversität, wird er als „Distinguished Professor Emeritus“ und „Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres“ geführt. 1995 hat er dort das Department für Film aufgebaut. Ungefähr fünfzig Bücher hat Charyn geschrieben. In den großen Büchern Metropolis über den Mythos von New York und Movieland über die Traumkultur Hollywoods verbindet er stupende Kenntnis mit einer höchst subjektiven, autobiographisch imprägnierten Perspektive.
»Jerome Charyn ist ein wahrer Dichter, nämlich ein Magier«, jubelte die Süddeutsche Zeitung. Aber nicht über den Kriminalschriftsteller, sondern über den Autobiographen, der in Die dunkle Schöne aus Weißrussland (2000) und Der schwarze Schwan (2002) mitreißend zwischen Wahrheit und Dichtung changierend vom Wunderknaben »Baby Charyn« schwadroniert, der mit einem stummen, prügelnden Vater und einer Mutter aufwächst, die bei dem jüdischen Gangster Meyer Lansky beim Glücksspiel Karten gibt. Nach ihr hat sich die ganze Bronx umgedreht, denn sie stellte alle Schönheiten Hollywoods in den Schatten. In dieser halb stummen, halb wilden Jugend als phantasiebegabtes Kind armer jüdischer Einwanderer liegt die Quelle von Charyns welterschließender Imaginationskraft. Aber kaum einer der Wahrer des Schönen und Guten hat Charyns zentrales Werk überhaupt erkannt. Eher nebenbei wurde in den Hymnen erwähnt, der Magier habe auch Krimis geschrieben. Nur selten hat die offiziell korrekt geleugnete Distinktionsschranke zwischen E- und U-Literatur so deutlich als blindes Fallbeil gewirkt wie im Fall Charyn. Dabei verhält es sich mit Haupt- und Nebenwerk, nicht nur aus Charyns Sicht, genau anders herum: »Sidels Stimme, selbst in der dritten Person, ist meine natürliche, meine persönlichste Stimme. Nur in diesen Büchern kann ich schreiben, was und wie ich will, ohne Vorschriften und Rücksichtnahmen und nur der Logik folgend, die ich im Kopf habe.«
Das Stichwort für Charyns Höchstform lautet »kreative Halluzination«. »Das Dilemma ist bloß, dass es seine Zeit braucht und von der Stimmung abhängt, um in diesen träumerischen Zustand zu kommen. In Europa gelang es mir schlecht. Ich weiß nicht, woran es lag, ob an der fremden Kultur und einer Art Furcht vor ihr, jedenfalls klappte es einfach nicht.«
Im Zentrum das „Ansonia“
So schleppte er etliche Jahre lang das motivische Herzstück für Unter dem Auge Gottes mit sich durch Paris. Für Le Monde sollte er einen Essay über das berühmte Ansonia-Hotel in Manhattans Upper Westside verfassen. »Mir war das Ansonia ungeheuer wichtig. Es war das Gebäude Manhattans, das für mich Europa bedeutete.« Erst als Charyn 2009 nach New York zurückgekehrt war, konnte er das Ansonia und seine wilde Geschichte in den elften Roman seiner Sidel-Saga und damit in seinen Mythos von New York als Universum des Verbrechens einflechten.
Die reale Geschichte des Ansonia bietet für sich schon Klatsch genug für mehrere Romane. Mit Balkonen, Karyatiden, Toren und Türmchen versehen, bedeckt es einen Block zwischen der 73. und 74. Straße West am Broadway. 1904 als höchstes Gebäude New Yorks geplant, wurde das Residenzhotel Aufenthaltsort von Toscanini, Mahler, Strawinsky, Caruso. Baseball-Ikone Babe Ruth wohnte hier. Auf dem Dachgarten lebten ein Bär, Ziegen und Hühner. Frische Milch und Frühstücksei waren inbegriffen. Mitte der sechziger Jahre traf sich im Kellerswimmingpool des Ansonia die schwule Community New Yorks, darüber lagen der Swingerclub Platos Retreat und ein berühmtes französisches Restaurant. Karen Kennerly, eine alte Freundin Charyns, die ihm auch bei den Recherchen half, führt mich durch die riesigen Flure. Angeblich sind es die weitesten New Yorks. Die ehemalige Cheflektorin eines großen Verlages wohnt seit 1974 hier. Heute ist das ehemalige Residenzhotel ein Apartmenthaus mit luxuriösen Eigentumswohnungen. Nach ihrer Pensionierung ist Karen ins Maklergeschäft eingestiegen und zeigt mir aktuelle Angebote. Für eine 400m²-Wohnung im Ansonia mit sieben Schlafzimmern, kreisförmigem Wohnraum in einem der Türme, ovalem Empfangsbereich und viereinhalb Badezimmern (das halbe ist eine Gästetoilette) zwölf Millionen Dollar und noch eine Million für Renovierungen hinblättern.
Im Auge Gottes sind wir Ziele, die darauf warten, elminiert zu werden
Dieses Kolosseum der Skandale bildet das Zentrum von Jerome Charyns Roman Unter dem Auge Gottes. Isaac Sidel, im Verlauf der Saga vom Cop zum Bürgermeister New Yorks aufgestiegen, ist jetzt, 1988, auf dem Ticket der Demokraten zum Vizepräsidenten der USA gewählt worden. Er und sein zukünftiger Präsident sind aber noch nicht ins Amt eingeführt. Es ist die Zeit, in der Posten vergeben und Bündnisse geschmiedet werden. Da entdeckt Sidel in der Bronx Landvermesser. Zurecht vermutet er, noch als Bürgermeister im Amt, eine Verschwörung. In der (damals äußerst realen) Wüstenei aus niedergebrannten und entmieteten Apartmentruinen will die Army einen Militärstützpunkt errichten. Das verspricht den Bankern und Immobilienspekulanten ungeheure Gewinne. Und der Präsident kann als Oberbefehlshaber die Kontrolle über New York gewinnen. Sidel sieht rot. Wenn es seinem (und Jerome Charyns) Kindheits-Kiez an den Kragen geht, wird er zum »übelsten Arschloch weit und breit.« Gesetz und Recht zählen nicht, wenn das Leben der Bronx auf dem Spiel steht. Sidel, immer die Glock im Hosenbund, entdeckt den Hintermann all dieser Machenschaften im Ansonia. Hier haust seit 1940 der jüdische Gangster David Pearl unterm Dach.
Alterslos, in Pantoffeln und mottenzerfressenem Pullover, eine typische Charynfigur, häuft der reichste Mann der Welt Besitztümer und Macht an. Ihm gehören halb New York und auch Inez, eine Schönheit mit silbernen Haaren. Sidel verliebt sich unsterblich in sie, sobald er sie erblickt hat. Auf magische Weise sind die Rettung der Bronx und ihrer Bewohner, die Befreiung von Inez und der Kampf gegen Pearl, diese Inkarnation des organisierten Verbrechens, miteinander verwoben. All das ist für Sidel wichtiger als die politische Macht. Die fällt ihm, wenn er diesen Kampf überlebt, von selbst zu.
Schon auf den ersten Seiten des Romans wird der designierte Vizepräsident Sidel von einem Attentäter angeschossen, der brüllt: »Ich bin das Auge Gottes«.
Jerome Charyn grinst, als ich ihn nach der Bedeutung des Romantitels Unter dem Auge Gottes frage. » Mir gefällt er. Und In einem gewissen Sinn sind wir doch alle im Auge Gottes Ziele, die darauf warten, eliminiert zu werden.«
Eine Comic-Version von Bambi war das erste Buch, das Charyn mit seiner Mutter las, um Englisch zu lernen. Comic und Film waren seine ersten Sprachen. Charyn hat sie nie vergessen. Ihre schnellen Schnitte, grellen Farben und mutwillig scheinenden Szenenwechsel strukturieren seine Kinderbücher für Erwachsene. Nicht nur Sidel ist eine Holzschnittfigur bar jeder Psychologisierung. Er ist einfach da, eine Urgewalt, eine Sagengestalt. In den elf Bänden der Saga nimmt er jede Farbe an. Ob er nun der Mutige, der Penner, der Gerechte, der Bär, der singende Polizist, Mr President, Don Quichotte oder Big Guy genannt wird, Sidel ist unwiderstehlich. Sein Charme reißt Vorurteile und Königreiche nieder. Er verzeiht wie Jesus, mordet wie Herodes und ist die Inkarnation aller Detektive und Verbrecher, die es je gab.
vom Überleben
Die Saga um Isaac Sidel ist der große Traum des armen, dünnen Jerome, der an der Highschool erfahren musste, dass außer ihm alle einen festen Plan für ihr Mittelstandsleben hatten, der Yale oder Harvard hieß. Sie erzählt, mit ihren zahllosen Einsprengseln aus der realen Geschichte den Mythos von New York, der Hauptstadt der Welt und ihrer Verbrechen fort. Und sie ist wie alle Sagas eine Weltgeschichte vom Kampf, vom Krieg aller gegen alle – und vor allem vom Überleben.
Es dämmert. Noch immer leicht betäubt von seinen Klagen über Versagen, unrealisierte Träume und Lebensalternativen frage ich Charyn, ob er kein bisschen zufrieden mit dem ist, was er geschaffen hat. Da richtet er sich auf: »Ich bin sehr, sehr stolz auf meine Bücher. Niemand außer mir hätte sie ausdenken und schreiben können, kein Mann, keine Frau. Da ist nur meine Signatur, nicht ein winziger Abdruck von jemandem anderen drin. Natürlich weiß man nicht, was davon auf Dauer Bestand hat, aber Sidel ist das, was von mir bleibt, wenn überhaupt etwas bleibt.«
Auf dem Weg zum Abendessen stapft Jerome Charyn durch die schmalen Straßen von Greenwich Village. Wie Isaac Sidel, der bei seinen nächtlichen Streifzügen nicht erkannt werden wollte, hat sich Charyn mit Wollpullover und schwerer Lederjacke vermummt. Er stolpert fast, vorgebeugt wie Groucho Marx. Kaum bekomme ich mit, was er murmelt. »Alter ist Beschränkung. Schreiben, Kino, Tischtennis, Liebe machen und Essen – mehr ist nicht drin.« Beim Chinesen wartet schon Lenor, »my fiancée«, eine Anwältin. Plötzlich kommt Charyn auf Sidel zurück: »Soll ich ein zwölftes Buch schreiben? Mir kommt die Geschichte eines Mannes, der dabei ist, Präsident zu werden, stärker vor als die eines Mannes, der Präsident ist. Trotzdem: Könnte sein, dass ich das noch mache. Aber wer weiß schon, was kommt.
Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
diaphanes
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