Vom Täter oder vom Opfer?
Der Krimiblog von Tobias Gohlis
von Tobias Gohlis
von Tobias Gohlis
Im Vordergrund: eine Gerichtsverhandlung. Ein Bundeswehrhauptmann ist angeklagt, seine Frau erschlagen zu haben. Im Hintergrund die Geschichte zweier Häuser. Sie deutsche Schicksalshäuser zu nennen, wäre pathetisch. Es sind reale Häuser, um die es hier geht, keine Horror-Spukschlösser. Sie liegen an der Erwin-Rommel-Steige im Ortsteil Herrlingen der kleinen schwäbischen Stadt Blaustein. Wer will, kann die rohen Fakten im Internet finden.
Die Kunst des Geschichte(n)erzählens besteht darin, solche Fakten verborgen zu halten, sie ins geheime innere Zentrum eines Geschehens zu verlegen, das nicht von vornherein offen zu Tage liegen soll. Das ist es, wozu ein guter Kriminalroman taugt. Und der, um den es hier geht, mit dem schlichten Titel BEIFANG von Ulrich Ritzel, ist ein ganz hervorragender.
Als Ulrich Ritzel 1999 mit dem Kriminalroman DER SCHATTEN DES SCHWANS debütierte, hatte er bereits ein Berufsleben hinter sich. Fünfunddreißig Jahre als Lokal- und zeitweise auch Gerichtsreporter hatte er auf dem Buckel. Als er 1998 den Journalismus zugunsten der Schriftstellerei aufgab, war er Chefreporter der „Südwestpresse“ und 1980 mit dem Wächterpreis der Tagespresse ausgezeichnet worden für einen Artikel über den Politfilz der Provinz – ein Thema, das auch seine inzwischen sieben Kriminalromane durchwirkt wie die Regenwürmer den Kompost.
Der Komposthaufen liegt in Ulm, das ist westdeutsche Nachkriegs-Klassengesellschaft im überschaubaren Format. Hier kann man die Regeln studieren, nach denen die deutsche Politik, auch die sogenannte große, funktioniert. Zum Beispiel gibt es da eine Kunsthistorikerin, die Kulturreisen nach Ägypten und Italien geleitet hat. Als ihr Reisebüro Pleite ging, hat sie fexibel eine lukrativere Tätigkei gefunden. Sie erquickte den Vorstand des Stromgiganten Stuttgarter Neckarwerke und seine Geschäftspartner sexuell. „Führungen“ tagsüber brachten 800, „Gutachten“ inkl. Übernachtung 1500 Euro, mit Mehrwertsteuer.
Dieses Privatgeschäft aber ist dem Gericht in Ulm sozusagen außer Sicht geblieben, das ihren Gatten anklagt, die begabte Reiseführerin ermordet zu haben. Die 27-jährige Fiona M. wurde nämlich mit einem Schlag der Handkante getötet, und sowas beherrscht Haupt- und Ehemann M. perfekt. M. ist Nahkampfausbilder und nach einer Puffschlägerei im Kosovo zum unpassenden Moment in der Heimat eingetroffen. Als seine letzte Hoffnung, Staranwalt Eisholm, unter einem Güterzug landet, tendieren M.s Chancen auf Freispruch gegen Null. Zum Glück für den armen Militär-Tropf hat Eisholm vor seinem (un-?) freiwilligen Bahntod Hans Berndorf als Privatermittler engagiert, den ehemaligen Leiter des Ulmer Morddezernats.
Berndorf, knorriger Held der meisten Ritzel-Romane, ist Romantiker und Skeptiker und daher ein Klasse Detektiv. In kurzer Zeit räumt er mit dem ganzen Ulmer Murks auf, indem er sich an einer scheinbaren Nebensächlichkeit festbeißt.
Gerade mal zwei Tage braucht er, um den aus allen Ermittlungsakten verschwundenen letzten Beischläfer der Fiona M. aufzutun. Wer intelligenten Slapstick mag, wird „Beifang“ allein um jener Szene willen lieben, in der Berndorf den aufstrebenden Politiker Kröttle bei einer Wahlkampfveranstaltung als Kunsthistorikerinnenmitbenutzer auffliegen lässt.
Mit der Lässigkeit eines Mannes, der seinen Verstand trotz 35 Dienstjahren im Ulmer Sumpf scharf gehalten hat, kommt Berndorf der kleinen bürokratischen Verschwörung zum Schutz des Innenministerlieblings auf die Spur und erledigt sie mit ein paar ausgefuchsten Tricks. Schließlich ist das nicht das erste Mal, dass Akten verschwinden und Ermittlungen versanden, wenn ein Patriot mit Dienstwagenberechtigung ein bisschen Dreck an den Stecken gekriegt hat. Also weiß ein gewiefter Polizist, wie man sowas klar macht.
Was ganz und gar nicht klar geht, ist etwas anderes. Der Kröttle war auch nicht der Mörder. Weshalb Berndorf sich an einem seltsamen Schmuckstück festbeißt, das die Tote getragen hat.
Wie ist die putzjunge Kunshistorikerin an einen mindestens 150 Jahre alten jüdischen Hochzeitsring mit der Gravur „MT“ geraten? Das bedeutet „Masel Tov“ – viel Glück. Glück hat die Besitzerin dieses Erbstücks nicht gehabt. Das weiß der Leser aus dem Prolog, und der spielt 1942 in Herrlingen.
Eine ältere Jüdin, die ins dortige „Altersheim“ zwangseingewiesen worden ist, wird auf der Straße von Steine werfenden Jungen verletzt. Eine junge Frau kommt ihr zu Hilfe und erhält deshalb von der Jüdin am Vorabend der Deportation den Hochzeitsring mit der Aufgabe, ihn nach Kriegsende an eine Verwandte in London weiterzugeben.
Ulrich Ritzel gehört zu den Autoren, die trotz dichter und komplexer Erwählweise ihren Figuren Luft lassen – und damit ihren Lesern die Möglichkeit zu staunen. Staunen muss man zum Beispiel über die Wandlungen dieser gutmütigen Helferin, die im Verlauf der Berndorfschen Ermittlungen offenbar werden – so nebenbei wie vieles andere in diesem vielschichtigen Roman. Stilistisch und kompositorisch hat Ritzel zu einer neuen Leichtigkeit gefunden, hat sogar einige Frivolitäten untergemischt, ohne an Entschiedenheit zu verlieren.
Als „Beifang“ bezeichnen Polizisten zufällig und ohne Absicht gefundene Hinweise auf bisher unbekannte Verbrechen. Als Beifang hat Berndorf den Ring entdeckt. Er wird zum Hauptfang, je tiefer der Ermittler ins Gewirr der Vergangheit vorstößt. Dabei kommen dann auch die beiden Häuser ans Licht. Anfangs gehörten sie zu Landschulheim und Reformschule der jüdischen Pädagogin Anna Essinger. Das eine Gebäude wurde dann zum Zwangsaltersheim für enteignete Juden. Das andere herrschaftliche, in dem der jüdische Philosoph Martin Buber noch 1934 eine Tagung zur Erwachsenenbildung abgehalten hatte, wurde 1943 von Generalfeldmarschall Rommel und Familie bezogen.
Von der Reformschule zum Judenhaus, so begann die moderne Ringparabel, die Ritzel erzählt. Eine Parabel auf Raffgier, Mickrigkeit und Kleingeist. Anstand zeigen nur wenige, Größe kaum jemand. Ein bitteres Thema, eine offene Frage. In Deutschland war es früher ganz leicht, seine Nachbarn zu berauben. Die Verhältnisse haben sich geändert. Reicht das schon?
Ulrich Ritzel: Beifang
btb, München 2009, 464 Seiten
Dies ist die unredigierte Fassung eines Beitrags, der im Literaturmagazin der ZEIT September 2009 erschienen ist. BEIFANG stand 2009 auf der KrimiWelt-Bestenliste
von Tobias Gohlis
Auf dem Friedhof der nordfriesischen Insel Pellworm, der den namenlos gebliebenen Opfern des Meeres vorbehalten ist, befinden sich zwei Grabsteine. Sie sind nur mit einem Kreuz und der schlichten Datumsangabe „4.7.31“ gekennzeichnet. In diesen Gräbern liegen jedoch keine Namen- und Heimatlosen, sondern, wie der entsprechende handschriftliche Eintrag des Küsters vom 11. 7. 1931 ausweist, zwei Polizistinnen: Therese Dopfner und Maria Fischer, Mitglieder der Hamburger Weiblichen Kriminalpolizei. Ihr Tod erregte damals für ein paar Tage die Presse zu wilden Spekulationen.
Hatten sich die Beamtinnen selbst getötet? Wie? Erschossen, vergiftet, aneinander gefesselt ertrunken? Aufzuklären sind diese Gerüchte kaum noch. Es wurde regelwidrig keine Obduktion vorgenommen, und die Leichen, die einige Tage im Watt gelegen hatten, wurden hastig und anonym beerdigt. Knapp ein Jahr später, im März 1932, wurde der Tod der Polizistinnen in einem Disziplinarverfahren gegen ihre Chefin nochmals untersucht.
Regierungsrätin Josephine Erkens war eine der höchstrangigen deutschen Polizistinnen, als Vorkämpferin für den Aufbau weiblicher Polizeieinheiten international bekannt. In Hamburg bestand damals ein politisches Patt zwischen den regierenden Sozialdemokraten, die auch Innensenator und Polizeipräsident stellten, und den rechten wie linken republikfeindlichen Parteien.
In diesem Moment größter politischer Unsicherheit betritt eine junge britische Polizistin Hamburger Boden. Jennifer Stevenson will als Beauftragte der „International Police Women’s Association“ aufklären, welche Vorwürfe gegen die leitende Polizeibeamtin Erkens erhoben werden und warum die von ihr geleitete weibliche Polizeiabteilung geschlossen worden ist.
Jennifer Stevenson ist eine der wenigen, aber starken fiktiven Figuren in Robert Bracks Kriminalroman Und das Meer gab seine Toten wieder.
Der reale ominöse Fall der beiden toten Polizistinnen stachelte den Hamburger Autor zu eigenen akribischen Recherchen an. Mit dem Kunstgriff, diese Untersuchungen der Britin Stevenson, einer engagierten Fremden, zu übertragen, gelingt Brack ein literarischer wie historischer Coup. In schnörkellos knappem Stil verwickelt er seine junge Ermittlerin in die dramatischen Auseinandersetzungen der Zeit. Kunstvoll weckt er den Verdacht gegen Intriganten und Dunkelmänner in der Polizei. Dramatische Höhepunkte sind eine Verfolgungsjagd im Pellwormer Watt und eine Schießerei im heute nicht mehr existierenden Hamburger Gängeviertel. Die Krimihandlung schürt die Spannung, führt in plastisch geschilderte Milieus und entfernt sich trotzdem nirgendwo aus der sozialen, politischen und kriminalistischen Wirklichkeit jener Krisenzeit. Das I-Tüpfelchen in Bracks Kabinettstück: Er präsentiert eine überzeugende Lösung. Seine faktenstarke Fiktion erhellt ein Stück Polizei- und Frauengeschichte, das so noch niemand sah.
Robert Brack: Und das Meer gab seine Toten wieder
Edition Nautilus, 2008, 219 Seiten
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 31 vom 23.7.2008