Erste Lektion: Schöpferisches Seminar Prosa, Leitung Helmut Richter. Eigentlich gebe es keine Vorschriften für Prosa. Doch will er ein Experiment veranstalten: Durch genaue Interpretation eines Textes aus Isaak Babels „Reiterarmee“ sollen Intention und Verfahren des Autors so deutlich erkennbar werden, daß der letzte Satz der Kurzgeschichte wörtlich geraten werden kann.
Dieses Ziel steuert Richter – unbeirrt von Frauen-Protest gegen Babels als martialisch empfundene Sprache mit der Holzhammerpädagogik „lenkend-entwickelnder“ Fragen an. Trotzdem rät niemand den Satz. Zu fremd ist den Westmenschen Babels Bürgerkriegswelt von 1920. Richters Absicht, zu lehren, wie ein Autor seinen Text beherrscht, ist mit seinem begrenzten Literaturbegriff kollidiert. Auch Babels Text weiß mehr als sein Autor. Uns wird er schulmäßig versaut.
Nein, nicht ganz, eine Regel des großen Prosaisten bleibt haften: „Vergleiche sollen genau sein wie ein Rechenschieber und aromatisch wie Dill.“ Das schmeckt.
Zweite Lektion: schöpferische Gruppenarbeit. Peter Gosse, Lyriker und Lyrikdozent am Institut, zeigt sich präsent, präzise, geschwind. So daß ich den Blitzvortrag des gelernten Ingenieurs für Hochfrequenztechnik darüber, was Lyrik sei, nämlich Form, nur formelhaft knapp notieren kann. „Form = Inhalt / Inhalt = Ich / Ich + Form = Demut zur Welt“. Aha. Gosse spricht: „Ein Lyriker muß die klassischen Formen so beherrschen, daß er ein Sonett im Schlaf bauen kann.“ Handwerk ist angesagt.
Zeilensprung. Zack, zack, sollen wir einen ungegliederten Text zäsurieren. Ein Spiel: Jeder findet andere Brüche, und Gosse zeigt ihm den Sinn, den er gemeint hat. Aber schon sind wir weiter, bei Bobrowski, Goethe, Sappho. „Sie haben zehn Minuten, machen Sie aus den Hexametern ein Distichon.“ Schweißtreibende Arbeit.
Die anderen Gruppen beschäftigen sich mit sich und ihrer Gegenwart: mein Befinden in Deutschland. Der Vorschlag des Sommerkursleiters Günter Gießler, einen Dialog zwischen Erich und Margot Honecker zu erfinden, wird abgelehnt.
Dritte Lektion: Anschaulichkeit. Der Lyriker Thomas Rosenlöcher aus Dresden ist zu Lesung und Vortrag da, ein lebensfroh strahlender Mensch und Musterschüler. Den Vortragsstil des Instituts hat Rosenlöcher übernommen: Seine Poetologie entwickelt er hinter einer Barrikade aus Büchern.
Er preist – Brockes und Rilke, Sarah Kirsch und Eichendorff lobend – den Widerstand anschaulicher Bilder gegen die Diktatur des Abstrakten. Rosenlöcher liest dann Prosa, die wenig innere Anschauung und viel allzu schnellen Überblick hat. Aus seinem sonst so liebenswerten „Dresdner Tagebuch“ der Wendezeit hat er ausgerechnet den Bericht über seine erste Westreise ausgewählt. Noch erschüttert von der Öffnung der Mauer trifft der Dresdner Dichter in Freiburg zwar auch auf Westspießer, die er viel fürchterlicher findet als Ostspießer, aber: „Andererseits glaube ich gerade hier fortwährend richtige Menschen zu treffen.“ Doch bevor er weitereilt, liest Rosenlöcher sein fabelhaftes Gedicht „Schneebier“ und macht fast alles wieder gut.
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