Vierte Lektion: Deformationen. Bernd Leistner, Klassikexperte am Institut, plaudert – ohne Bücherstapel – kenntnisreich über die Rezeption von Klassik und Romantik durch die DDR-Literatur. Am Beispiel einer Kontroverse zwischen Christa Wolf und Peter Hacks, in der die Vertreibung der Gottinger Sieben genannt und die Ausbürgerung Biermanns gemeint war, zeigt er, wie die Klassik den zur Sklavensprache verdonnerten Autoren als Folie und Charakterfundus für subtile politische Anspielungen diente. Und schließt mit der Bemerkung, die Schriftsteller hätten das Spiel mit der Zensur auch genossen.
Ja, setzt Leistner noch eins drauf, die Zensur habe auch einen Kunst- und Formungszwang ausgeübt, den mancher in den heranbrechenden Zeiten des anything goes noch vermissen werde.
Eine Sternstunde: „Ich habe . . . das kleine Gerne-Groß-Land zum Teufel gewünscht, und jetzt, wo es beim Teufel ist, fehlt mir plötzlich etwas. Vielleicht ist es eine Art Gulag-Wehmut. Man hat sich auf lebenslänglich verurteilt eingerichtet, und nun geht man fort in ein Ungewisses und schaut zurück, . , . dorthin, wo die Gräber der Freunde liegen.“ Plötzlich ist die Verquältheit weg. Hier spricht eine klare Stimme.
Der Leipziger Schrifststeller Werner Heiduczek ist am 3. Oktober zu einer „Club“-Lesung ins Institut gekommen, zu der im Unterschied zu früher öffentlich eingeladen wird. Nach dem „Aktuellen“ liest der gebürtige Oberschlesier aus Hindenburg, das heute Zabrze heißt, einen Text der Erinnerung an diesen fernen Ursprungsort, eine geistige Reise ins zerrissene Innere Europas. Alle um sich vergessend, verwickeln sich nach der Lesung Werner Heiduczek und der Klaus-Mann-Forscher Friedrich Albrecht in ein Gespräch über Bilder der Kindheit, über die Kraft der Erinnerung: zwei alte Männer im Widerstreit. In diesen Momenten ist sie da, die Literatur, im Literaturinstitut.
Hauptlektion: Textwerkstatt. Nicht der gemeinschaftlichen Produktion, wie einige erwartet haben, sondern der Vorführung abgeschlossener Texte dient die Werkstattarbeit am Institut. Autor und Text kommen nach festen Regeln auf den Laufsteg. Nach der etwa zwanzig- bis dreißigminütigen Lesung hat der Autor schweigend die Beiträge der anderen anzuhören, bevor er in einem Schlußwort reagieren kann.
Vom alten Hasen mit mehr als zehn Buchveröffentlichungen bis zur Anfängerin, die zum ersten Mal öffentlich liest, reicht die Bandbreite. Entsprechend unterschiedlich sind Anspruch und Qualität der Texte. Eine Vorauswahl, die ein einheitlicheres Niveau gewährleistet hätte, hat nicht stattgefunden. Zudem haben die ersten Tage, in denen wir im wesentlichen Zusatzfragen stellen durften, nicht gerade zu der notwendigen Vertrautheit beigetragen, in der offene und persönliche Kritik möglich ist. So spielt sich unter den Autoren wenig ab.
Eine freundschaftliche, etwas verkrampfte Behutsamkeit: Zuviel Schärfe würde die Gäste verletzen, zuwenig würde gönnerhaft wirken. Die Dozenten führen vor, was sie können: Sie würdigen Intention und Vorhaben, rufen literarische Verwandte auf, nagen fragend, erörternd, apodiktisch an Schwachstellen, Stilbrüchen und unbeabsichtigten Wirkungen, denken auch einmal Alternativen durch und achten darauf, ein, zwei gute Ratschläge zu entwickeln; „Studieren Sie Prosaformen!“ oder: „Orientieren Sie sich an Ihren genauesten Findungen!“ Ratschläge, die im konkreten Zusammenhang weit besser als nur gut gemeint sind und dankbar aufgenommen werden. Ja, hin und wieder gestattet sich das Gespräch einen Hopser und verläßt unser Clubsessel-Klagenfurt zu einem Assoziationsausflug, zum Beispiel über das schrecklich schmeckende Fleisch maskuliner Schwäne, die im „Entgangenen Erstaunen“ der Lyrikerin Gabriele Cenefels eine unentschlüsselte Schlüsselrolle spielen – Exkursionen, die das Werkstattdasein würzen.
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