Persönliche Reaktionen der Dozenten bleiben jedoch selten, nicht nur deshalb, weil die vorgelegten Texte zuwenig provozieren. Zum Becher-Lehrstil gehört ein in vielen Berufsjahren gehärteter objektivierender Redegestus. Was aber geschieht, wenn diese Hausästhetik konfrontiert wird mit Texten, die nicht mit humanistischer und realistischer Wolle gestrickt, sondern irrational, asozial, böse, verspielt sind, mit Texten, die Ich- Zerfall und Sprachverlust reflektieren?
Die Traumprotokolle des Pastorensohns und Psychologen Karl-Andreas Franke, der 1987 aus Leipzig geflüchtet ist, über das Leid in und an seiner Vaterstadt lösen emotionales und interpretatorisches Chaos aus. Westmenschen fehlen Details zur Leipziger Geschichte, einigen Ostmenschen die Analyse oder („Wie hätte das Neue aussehen können?“) die Perspektive.
Weniger Tristesse! Mehr Dialog! Weg mit dem Pathos! Sei realistischer! Stummfilm!
Hätte der Mentor nicht auf der Linie gerettet, wäre von Frankes Träumen nichts übriggeblieben. Im allzu seltenen Streitgespräch trat hier das Lernbare an der Literatur zutage, das Kosten und Wägen der Worte im Zusammenprall der Subjekte. Das bringt, was eines der Schriftplakate an der Wand fordert: Präzisierung! Auch in der noch lange notwendigen Auseinandersetzung über Ost- und Westblindheiten.
Und dazu ist auch das Literaturinstitut zu gebrauchen. Durch Fern- und Direktstudium, durch stipendienunterstützte Sonderkurse zur Weiterbildung etablierter Autoren und auf andere Weise hat es der Literatur Raum gegeben. Sein zukünftiger Status wird noch geklärt werden, aber auf das Literaturinstitut zu verzichten wäre töricht. Von Rainer Kirsch und Thomas Rosenlöcher bis zu Barbara Köhler vom letzten Absolventenjahrgang: Alle, mit denen ich rede, sprechen sich für die Weiterexistenz des Instituts aus. Helmut Richter nennt weitere Unterstützer: Peter Härtling, Walter Höllerer und Erich Loest. Loest allerdings präzisiert, was Richter nicht sagen mochte: Er ist dafür, nach einer organisatorischen Übergangszeit alle Dozenten zu entlassen – mit der Möglichkeit, sich neu zu bewerben. Eine gute Idee.
Nachbemerkung 2020: Nach der Lesung und Diskussion mit Werner Heiduczek gingen wir hinüber auf den Marktplatz, um zu erleben, wie die deutsche Einheit gefeiert würde. Es war die Nacht des 3. Oktober 1990. Im Hintergrund die Thomaskirche. Von Süden kamen zwei LKW mit martialisch ausstaffierten, Naziparolen grölenden Suffköppen. Sie warfen mit Bierflaschen und brannten Wunderkerzen ab. In der damals noch kaum beleuchteten Innenstadt kam es mir wie eine Erinnerung an vergangene Zeiten vor, es war leider auch ein Vorausblick. Wenige Tage später wurde Kurt Biedenkopf zum sächsischen Ministerpräsidenten gewählt. Während seiner Amtszeit leugnete er, in Sachsen gebe es Rechtradikalismus.
Das Literaturinstitut wurde allen Protesten zum Trotz aufgelöst und neu als Institut der Leipziger Universität gegründet. Das prominent gelegene „grüne Ungetüm“ wurde privatisiert.
Dieser Artikel wurde am 30.11.1990 in der ZEIT veröffentlicht.
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