Ein Selbstversuch im Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ 1990
Etwa vierzig Personen sitzen in Clubsesseln mit abgewetzten roten Bezügen um eine niedrige Tischfläche herum. Es ist gut warm, denn wie in fast allen Gebäuden der Messestadt sind die Heizungsventile kaputt. An den Wänden drei Schriftplakate und ein Holzschnitt von HAP Grieshaber, vor dem Fenster ein Flügel und ein Fernsehgerät, auf dem Tisch Kekse und Blumen. In diesem Raum haben seit 1955 knapp tausend Studenten Literatur gebüffelt, ein Drittel davon wurde Berufsschriftsteller.
„Literaturinstitut Johannes R. Becher bietet Kurs für kreativ Schreibende an.“ Diese Notiz im Mitteilungsblättchen des Hamburger Schriftstellerverbandes brachte mich ins „Grüne Ungetüm“ nach Leipzig. So wird die lindgrün verputzte Gründerzeitvilla in der Tauchnitzstraße 8 gern von ihren Absolventen genannt. Das Haus ist ein Mythos. Erich Loest und Adolf Endler, Sarah und Reiner Kirsch haben hier studiert, Helga Novak und Gerd Neumann wurden rausgeschmissen.
Das Institut wurde 1955 gegründet: in scharfer ideologischer Abgrenzung gegen „westliche Dekadenz“ (Joyce, Proust, Kafka). „Im Grundkonflikt zwischen gesellschaftlichem Auftrag und Wahrheitsanspruch der Kunst“, wie es Direktor Helmut Richter heute formuliert, hat sich das Johannes-R.-Becher-Institut durch den DDR-Sozialismus gewurstelt.
Seit November 1989 ist die splendid isolation durchbrochen. Einwöchige „Internationale Sommerkurse“ sollen dem Institut neue Freunde schaffen und dem Methodenvergleich dienen. Mit neunzehn anderen „kreativ Schreibenden“ nehme ich am zweiten dieser Kurse teil. Helmut Richter, seit März dieses Jahres Direktor der Villa, ein jovialer weißhaariger Herr, stellt uns die Dozenten vor: die meisten von ihnen Männer in den Fünfzigern, zwei Frauen nur, wenige ausübende Schriftsteller, Literaturwissenschaftler in der Mehrzahl.
Richter begrüßt uns als Sympathisanten: „Sie zählen, vermute ich, nicht zu denen im Westen, die jetzt am liebsten die DDR-Literatur abschaffen würden.“ Weitschweifig spricht er von Geist und Geschichte des Hauses, von angedrohten Schließungen, aber auch von schuldhaften Verstrickungen, von den Bemühungen, das Institut, das in der DDR Hochschulstatus hatte, an die Bedingungen des Hochschulrahmengesetzes anzupassen. Die vorgeschriebenen Gremien, Senat und Konzil, seien gebildet. Zum ersten Mal in meinem erwachsenen Leben begegne ich „belasteten“ Menschen. Wer hier war, war nicht nur Literaturförderer. Er mußte sich an die herrschenden Regeln halten, war durch sein Amt gebunden. Und jetzt, wo die beiden ehemals getrennten Staaten schneller als erwartet „zusammenwuchern“ (Richter), verschärft sich der Rechtfertigungsdruck. Vom Fortleben des Instituts sind viele Im Raum abhängig. In den Gesichtern ist etwas von dieser Existenzangst zu erkennen.
Wenige Tage vor Beginn des Sommerkurses ist Erich Loests „Zorn des Schafes“ erschienen. Darin sind Stasi-Akten mit den Namen mehrerer Institutsdozenten veröffentlicht, die 1979 in die Intrigen zur Vertreibung Loests verwickelt waren. Das Buch wird im Institut zum Verkauf ausgestellt.