Die Krimibestenliste im April: Im grausamsten Monat recht viel Verzagen und ein Paket Lebensfreude in sechs neuen Titeln
So zufallsgeneriert, so wolkenweise kommt die Krimibestenlise zustande: Etliche langzeiterfahrene, über den deutschsprachigen Raum verstreute Expertinnen und Experten erinnern sich an einem vorbestimmten Tag des Monats an ihre Lektüreerlebnisse, quirlen diese durch ihren Analyse-Krups, vergeben 7, 5, 3 oder 1 als Wertungsnoten, zusammengezählt, gewichtet – und fertig ist ein staunenswertes Labyrinth unverhoffter Querverbindungen.
In MONTECRYPTO etwa, Tom Hillenbrands Erzähl-Beitrag zur Debatte „Bitcoin verbieten/nicht verbieten/neuer Goldstandard“ fallen die Anspielungen auf Alexandre Dumas‘ GRAFEN VON MONTECHRISTO so dicht gestreut, dass man sich einen Hofmagier zur Seite wünscht, der entwirren hilft: Ist der als Broker gescheiterte Finanz-Detektiv Ed Dante doch ein Kreuzcousin jenes Edmont Dantès, der sich bei Dumas einer aristokratischen Rachephantasie hingibt?
Den wahren, edlen Rächer (im abstoßenden Gewand des ungewaschenen Fieslings) werden aufmerksame Leser aber an gänzlich unerwartetem Ort finden: In Chan Ho-keis Hongkong nämlich, wo der Altruismus einer aufopferungsvollen Schwester in dem Augenblick in grenzenlose Wut umkippt, als das Objekt der Fürsorge, die kleine Schwester Siu-wan, sich vom Balkon ihrer Hochhauswohnung stürzt. In DIE ZWEITE SCHWESTER protzt das menschliche Instrument der Rache („N“ wie in Nemesis) in Hongkongs überfüllten Straßen mit seinen Teslas und Corvettes.
Hart auf dem Asphalt donnern die in Südostasiens engen Straßen unerfüllbaren PS-Träume dieser Gefährte auf den löchrigen Freeways des östlichen Virginia, wo Mechaniker Beauregard in seinem innig geliebten Duster illegale Rennen fährt, um seiner Geldnot zu entkommen (S.A. Cosby: BLACKTOP WASTELAND).
Unbestrittenes Qualitätskriterium für Kriminalliteratur ist ihre Fähigkeit, die Legitimität von Recht und Gesetz zu überprüfen. In der Krimibestenliste April (von T.S. Eliot in „Waste Land“ als „grausamster Monat“ verunglimpft) geschieht das auf zweierlei Weise. Weder Matthias Wittekindt noch Simone Buchholz verbreiten den strahlenden Optimismus, dessen unsere von Strukturkritik ins Mark verunsicherten Sicherheitskräfte so dringend benötigen. Wittekindt, beeindruckt von der teilnehmenden Beobachtung eines Gerichtsverfahrens, fieselt nicht nur die immanenten Schwächen des juristischen Prozesses auf, die diesem die eigentlich verfolgte Wahrheitsfindung verunmöglichen, er kombiniert dazu noch dieses desaströse Courtroom-Drama mit der Sinnkrise eines Kriminaldirektors im Ruhestand. Der über dem ganzen Recherchieren, Rekonstruieren, Revidieren in eine Kopf bis Fuß erfassende Sinnkrise verfällt (VOR GERICHT).
Sinnkrise wäre auch das Stichwort für Simone Buchholz‚ RIVER CLYDE. Wenn nicht ihre Protagonisten die Sinnkrise längst hinter sich hätten. Chastity hat sich ans Ufer eines anderen Flusses gerettet, auch zeitlich: Vom River Clyde brach ein Vorfahr in gesegnete Land Amerika auf, von wo nach etlichen Schicksalsschlägen und Kriegen ihr Vater Generationen später nach Hanau an den Main gelangte, um Chastity zu zeugen, die jetzt wieder an den Familienursprung väterlicherseits in Glasgow zurückkehrt, wo die Menschen mindestens genauso wunderbar und herzzerreißend trauern (und trinken) wie an der Elbe. Verwaist ergeben sich ihre Kumpel in St. Pauli – nein, nicht dem Suff, den beherrschen sie aus dem FF – sondern dem Achtsamkeitstraining: Bullen lernen sich auf einer Decke hinzusetzen und sich mit Vornamen anzureden. Man bekommt richtig Mitleid mit ihnen, wenn man sich die Zeit nimmt, Simone bei einem ihrer Interviews zuzuhören. Nein, weder die Dresdner, noch die Hamburger Polizisten bringen’s noch, doch keine Bange: Alles Fiktion.
Dass kriminalliterarische Fiktion herzerfrischende Erweckunsliteratur sein kann (heilsam in der Oster-Ruhe, als hätte es nie und nirgendwo Oster-Unruhen gegeben, hey, ihr Biederdeutschen!) zeigt James McBride in DER HEILIGE KING KONG. Ich sage nur: Lesen, LESEN, LESEN! Man muss die Allergrößten – Cervantes, Dickens, Baldwin, Márquez und noch viele mehr – aufrufen, um diesen Gewürzgarten von Roman und seinen Helden mit dem grünen Daumen zu preisen. Heiter und bissig, verspielt und voll tiefer Trauer, satt mit lebensklugem Witz: Es ist die Geschichte eines wahren Gotteskindes, das weder von Krankheit noch Repression, weder von der Mafia noch den Schwarzen Gangstern noch von den Bullen fertig gemacht werden kann. Das einem jungen Drogendealer ein Ohr abschießt, damit die Baseballtradition einer Sozialsiedlung in Brooklyn nicht abbricht und die schönste Frau der Welt, die Venus von Willendorf, gerettet werden kann. Der Spitzname dieses Gotteskindes: Sportcoat. Hier die Rezension von Marcus Müntefering.
Die Krimibestenliste April ist seit Freitag, dem 2. April, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im crimemag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Bereits am Gründonnerstag hat Kolja Mensing den höchsten Neueinsteiger auf der Krimibestenliste besprochen: S.A. Cosbys BLACKTOP WASTELAND.
Ich wünsche viel Vergnügen!
Ihr Tobias Gohlis
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