Die Krimibestenliste im Dezember: Zwei Neue auf drei Kontinenten
„Von all den vielen Romanen auf der Krimibestenliste, die Gewalt gegen/Selbstbefreiung von Frauen thematisierten, scheint mir WIR SIND DER STAUB der eindringlichste und stärkste,“ schrieb ich über Elizabeth Wetmores Debüt aus Texas im Bericht über die Krimibestenliste November. Im Dezember führt WIR SIND DER STAUB die Liste an.
Ebenfalls in Texas, aber im Osten, in Houston an der Golfküste spielt der zweite Neuzugang auf der Dezemberliste: Attica Lockes BLACK WATER RISING. In einer Nachbemerkung zu ihrem Debüt von 2009 betont die 1974 geborene Autorin, dass die Eingangsszene des Romans auf einem persönlichen Erlebnis beruht.
In einer Phase „kollektiver Amnesie“ – Bürgerrechtskämpfe, gezielte Morde an Schwarzen Aktivisten schienen im Ölboom vergessen – machte Familie Locke einen Bootsausflug, Schüsse erklangen, und Atticas Vater, der seine Tochter nach einem Gefängnisaufstand benannt hatte, handelte nicht wie Jay Porter, der eingeschüchterte, zaudernde Held ihres Romans: Vater Locke stoppte das Boot nicht, rief aber die Polizei. Jay Porter hat sich auch als Menschenrechtsaktivist hervorgetan, aber nach Verrat aus den eigenen Reihen, Verhaftung und Knast konzentriert er zwei Dekaden später seine Kraft darauf, seine Anwaltskanzlei und seine kleine Familie durchzubringen.
Da passen ihm weder die streikenden Schwarzen Hafenarbeiter – die Ölstadt Houston ist der zweitgrößte Hafen der USA – noch die geheimnisvollen Verfolger in den Kram, die ihn bedrohen, seine Waffe klauen und ihm Geld dafür geben, dass er das tut, was er sowieso vorhatte: den Mund zu halten.
Wie er dann doch noch seinen aufrechten Standpunkt gewinnt, ist einer der starken inneren Spannungsmomente dieses enormen Debüts, das Klassenkampf und Antirassismus in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts in einer komplexen Geschichte anschaulich macht.
Der 1976 geborene Colin Niel, Evolutionsbiologe und Ökologe, der jahrelang in Französisch-Guayana gearbeitet hat, hat bereits in seinem ersten, mitreißenden Roman NUR DIE TIERE die Lebenswelten und Sehnsüchte Afrikas und Frankreichs kontrastiert.
Das tut er auch in UNTER RAUBTIEREN, verschärft durch den Fokus auf die Trophäenjagd. Im Nebenzentrum des Romans steht deshalb der alte Löwe Charles, der die Ziegen der nomadischen Himba als Leibspeise entdeckt hat, aber auch Trophäe der jungen französischen Bogenschützin Apolline werden kann. Auch der rangniedrige Himba Kumiti will den Löwen töten, um Ansprung auf seine wunderschöne Geliebte erheben zu können. Als auf Facebook ein Foto Apollines mit dem in Namibia erschossenen Löwen auftaucht, dreht Nationalparkranger Martin durch. Seit je betrachtet er die zügellosen Jäger in seinem Pyrenäen-Revier als Inkarnation des menschlichen Vernichtungsdrangs. Als er Apollines Foto entdeckt, eröffnet er die Jagd gegen die Studentin, die mit einem absolut überraschenden Showdown in den winterlichen Bergen endet.
Beide Romane könnten auf dem Weihnachtstisch liegen, zeigen sie doch auf je eigene Weise, wie gute Kriminalromane von den krassen Widersprüchen unserer Gegenwart sprechen können und das auch noch in mitreißenden Geschichten.
Die Krimibestenliste Dezember ist seit Freitag, dem 3. Dezember, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im crimemag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert. Und bereits am Freitag morgen hat Thomas Wörtche bei Deutschlandfunk Kultur UNTER RAUBTIEREN als höchsten Neueinstieg besprochen.
Nicht vergessen: Wie seit Jahren stellen wir unsere Auswahl der Auswahl vor: die KRIMIBESTENLISTE 2021, mit den aus Sicht der Jury spannendsten, literarisch aufregendsten Kriminalromanen des vergangenen Jahres. Am FREITAG, DEN 2. DEZEMBER wird sie bekanntgegeben.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
Ihr Tobias Gohlis
Dr. Roland Schmidt meint
War für mich Colin Niels „Nur die Tiere“ die Autor-Neuentdeckung des Jahres, so hat er mit „Unter Raubtieren“ das Ganze noch einmal getoppt! Gerade beendet, und ich bin begeistert! Klare Leseempfehlung!
Tobias Gohlis meint
Lieber Herr Dr. Schmidt,
ich stimme Ihnen zu. Wäre „unter Raubtieren“ etwas früher erschienen, wäre es vielleicht sogar auch noch auf der Jahresbestenliste gelandet.
Herzlich Tobias Gohlis