Vier Neue: zwei aus Deutschland, je einer aus Kanada und den USA. Die Schauplätze: Berlin, „Schwarzbach“, Milton, „Big Bend County“.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Platz Eins im Mai:
Neu sind:
4 Die Guten und die Toten
Einhellig sind die Reaktionen auf den höchsten Neueinstieg im Mai: Kim Koplin (weiß der Herausgeber, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt…) hat mit DIE GUTEN UND DIE TOTEN einen saufrechen, actionsatten Berlin-Krimi aus dem Milieu der Underdogs, der Migranten und Papierlosen geschrieben, der im eher drögen deutschen Krimi mit einem neuen Sound aufspielt, eine gekonnt durchgeführte Kunstsprache zwischen Kiezdeutsch und Straßenslang. Die Hauptstadt als krimineller Tummelground: Saudische und deutsche Waffenhändler in Staatsdiensten sowie französische Mafiosie treffen auf anständige Migranten mit Aggressionsproblemen, kleinen Kindern und Bandenvergangenheit – genau wie im richtigen Leben, nur etwas hotter.
Kritiker, die die mangelnde Repäsentation deutschsprachiger Autoren auf der Krimibestenliste bemängeln, können aufjauchzen: Koplin ist der erste und Jochen Rausch der zweite deutsche Autor dieses Monats und ihre Bücher können durchaus als Messlatte für das genommen werden, was die Jury unter „guten Kriminalromanen“ versteht. Hier mein Beitrag vom Freitag, dem 5.5.23. als Text und zum Hören.
7 Im toten Winkel
Im Gegensatz zur/m pseudonymen Kim Koplin ist Jochen Rausch in der Medienwelt bekannt: Der 1956 geborene Autor war Programmdirektor bei Live 1 und im WDR, Musiker und Moderator, als er 2008 Bücher zu schreiben begann.
IM TOTEN WINKEL ist der erste Bad einer geplanten Serie um die aus Slowenien stammende Kommissarin Marta Milutinovic. Sie war Mitglied einer Spitzeneinheit in München, ließ sich aber an die deutsch-tschechische Grenze ins fiktive Schwarzbach als Revierleiterin versetzen, nachdem sie, traumatisiert durch die Ermordung ihrer Tochter, versehentlich einen Mann beim einvernehmlichen Vergewaltigungsspiel angeschossen hatte. Diesem Autor ist nichts zu bizarr, wenn es sich denn auflösen lässt. Zufälle des Schicksals spielen eine erhebliche Rolle in Rauschs erstem Band der Grenzland-Reihe. Zufälle, die sich mit bösen Absichten, Scham und Rachegelüsten vermischen. Jens F, vor gut zwanzig Jahren ermordet, postet im Netz Drohungen: „Ganz gleich, wie lange Du Dich versteckst. Und an welchem Ort Du Dich versteckst. Vor meiner Familie bist Du nirgendwo sicher. #JensF“.
Mal schauen, was Band 2 bringt, dieser ist prima.
6 Seventeen
Um die Kultur des Lesens muss man sich keine Sorgen machen: Tom Brownlow ist nicht der erste Mensch aus dem TV-Geschäft, der die Freuden der Literatur entdeckt. In seinem Debüt SEVENTEEN bedient er nicht nur die grassierende Mode an Zahlenspielen, sondern versteht auch die Drehungen und Wendungen seines Jobs als Drehbuch-Schreiber im Literarischen beizubehalten und ins Irre zu steigern. Lee Child, der sicher ein Vorbild ist, könnte sich bei Brownlow in manchem noch eine Scheibe abschneiden, vor allem, was eine gewisse Tiefe der Erzählung anlangt: Child glänzt und überrascht in der Fläche, Brownlow gibt Kontur mit biographischer Plausibilität, moralischen – nicht moralisierenden – Erwägungen und Konstruktionen sowie politischen Intrigen. Ob Killer Seventeen sein Horrorduell mit Killer Sixteen überlebt, entscheidet auch über einen Irankrieg. Ganz nebenbei.
8 Weiße Sonne (High White Sun)
J. Todd Scott, der seine zwanzigjährigen Kenntnisse als DEA-Agent in zeitgenössische Grenzkrimis einbringt, setzt in WEISSE SONNE die in DIE WEITE LEERE (2021) begonnene Saga aus dem „Big Bend County“ fort, dessen Name dem gleichlautenden Nationalpark in Südosttexas entlehnt ist. Mit seinen eher martialischen Deputys, dem erfahrenen Knochen Ben Harper und der mexikanischen Schnellschützin Amé Reynosa zieht Sheriff Cherry, eher der besonnene Typ, gegen eine Bande von „Aryan Brothers of Texas“ zu Felde, die einen dieser rauen, aber gutmütigen Texaner umgebracht haben, die man einfach lieben muss. Bemerkenswert an diesem aus hartem Hickoryholz geschnitzten Roman ist die Psychologie der Figuren: Die Guten sind zu Leiden und Mitleiden fähig, während die Bösen ihre Lebenserfahrungen ins Pathologische verarbeitet haben; sie sind alle Psychopathen. Insofern macht dieser Spätwestern, pars pro toto, Hoffnung für die Vereinigten Staaten. Für die Psychos endet es schlecht.
Die Krimibestenlisten und wo man sie findet
Die Krimibestenliste MAI ist seit Freitag, dem 5. Mai, online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden. Die Krimibestenliste MAI vom Deutschlandfunk Kultur gibt es als zweiseitiges PDF hier. Jurymitglied Kolja Mensing hat zum Start der Mailiste seine Favoriten im Gespräch vorgestellt.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Die Rezensionen wie auch der Link zur Krimibestenliste sind auch online auf der Seite Bücher des Monats nachzuhören und zu –lesen.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CulturMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und alle zehn Bücher engagiert kommentiert. Ausdrücklich empfehlen möchte ich Ihnen neben den Artikeln des CulturMags den Blog unseres Schweizer Jurymitglieds Hanspeter Eggenberger empfehlen, dem Sie nicht nur jede Woche eine kompetente Krimibesprechung entnehmen können, sondern der auch das PDF erstellt, das Sie als Liebhaberin oder Buchhändlerin herunterladen können.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Frühlingstage!
Ihr Tobias Gohlis