Die Krimibestenliste im Mai: einmal um den Globus in vier Romanen
Seit elf Jahren warten wir auf David Peaces Abschluss seiner Tokio-Trilogie. Jetzt ist er da, mit TOKIO, NEUE STADT noch kraftvoller, noch elegischer, noch genauer komponiert als die vorausgegangenen Bände: TOKIO IM JAHR NULL (deutsch 2009) und TOKIO, BESETZTE STADT (2010). Alle drei Bände setzen an im Tokio der Nachkriegszeit, einem gedemütigten, in seinem nationalistischen und imperialen Stolz zutiefst gekränkten Land unter US-amerikanischer Besatzungskuratel, das von Atombomben-McArthur unter sorgsamer Instrumentalisierung der militaristischen Traditionen und Schonung der Kriegsverbrecher in ein Bollwerk des Westens gegen den Kommunismus ausgebaut wurde. Peace, der seit 1994 mit japanischer Ehefrau und Kindern in Tokio lebt, hat mit dem Yorkshire-Quartett (1974, 1977, 1980, 1983) seinen Instinkt für Verbrechen trainiert, die aus dem Individuellen in historische Umbruchsituationen ragen und diese wiederum auf der Ebene des persönlichen Leids charakterisieren.
Drei Romane – drei Verbrechen, die zum Teil bis heute im kollektiven japanischen Bewusstsein gären. TOKIO IM JAHR NULL erforscht die Unterschiede/Verknüpfungen zwischem den Serienmorden Yoshi Kodairas und den Kriegsverbrechen der japanischen Armee. In TOKIO, BESETZTE STADT umkreist er, ähnlich wie Akira Kurosawa In „Rashomon“, aus verschiedenen Perspektiven die bis heute unaufgeklärten Verbrechen, für die der Maler Hirasawa Sadamichi vermutlich unschuldig eingesperrt wurde.
Und TOKIO, NEUE STADT (original TOKYO REDUX) nimmt seinen Ausgangspunkt bei einem bis heute nicht aufgeklärten Fall, dem Tod des Präsidenten der Nationalen Eisenbahngesellschaft 1949. Sadanori Shimoyama verschwand auf dem Weg zur Arbeit und wurde, überrollt von einem Zug, am nächsten Morgen aufgefunden. Peace konzentiert sich in den 3 Teilen des Romans in drei Zeitebenen auf drei/vier Ermittler, und wie immer hat er ihnen eine Schriftsteller-Figur zugeordnet, die über der Recherche und dem Versuch, den Fall zu beschreiben, den Verstand verloren hat.
„Die einzige Heilung für den Wahnsinn ist der Tod.“ Dies könnte als Motto über allen Romanen der Tokio-Trilogie stehen – ich empfehle: Wer Zeit hat für anstrengende Lektüre und etwas Recherche nebenbei, sollte sie alle lesen. Oder mit dem letzten anfangen, der sofort auf Platz 1 der Krimibestenliste Mai gelandet ist.
Der 1976 in Clamart in der Nähe von Paris geborene Colin Niel ist eine Entdeckung und eine Erweiterung des deutschen Krimihorizonts. Niel ist von Haus aus Agrar- und Forstingenieur, hat in Entwicklungsprojekten gearbeitet. Diese Lebenserfahrung ermöglicht es ihm, in NUR DIE TIERE ungeheuer dichte Naturbeschreibungen aus den einsamen Dörfern und der in ihnen lebenden einsamen Menschen des Massif Central zu verknüpfen mit der Perspektive eines jener überqualifizierten jungen armen Männer aus Westafrika, die sich als brouteur – Internetbetrüger – schnelles Geld verdienen wollen. Dessen Maxime: „Jahrhundertelang haben die Weissen Afrika ausgeplündert. (…) Sie sind es, die Afrika was schuldig sind, für alles, was sie unseren Vorfahren angetan haben. Das nennt sich Kolonialschuld.“ Heiß-Kalt wird einem bei der Lektüre.
Während mit der Privatdetektivin, Kopfgeldjägerin und Spezialistin für Verschwundene Alice Vega in Louisa Lunas TOTE OHNE NAMEN eine ganz neue Figur die Krimiszene betritt, haben wir es mit Jackson Brodie in Kate Atkinsons WEITER HIMMEL mit einem alten Bekannten zu tun. Wieder Yorkshire: Wie David Peace stammt Kate Atkinson aus Yorkshire. In Whitby, dem Hafen, wo Grafe Dracula englischen Boden betrat, hat sie eine Zeit lang gelebt. Diese Ortskenntnis spielt mit in der bösartig-liebevollen Beschreibung von Hinterland, Oberfläche und Untergrund der Küste dort in WEITER HIMMEL. Brodie ist bei seinem fünften Auftritt und in einer weiteren ziemlich desaströsen Beziehung würdig gealtert, aber immer noch mit einem starken Riecher für Ungerechtigkeit und ihre bürgerliche Tarnung ausgestattet.
Die Krimibestenliste Mai ist seit Freitag, dem 7.Mai, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im crimemag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Bereits am Freitag morgen habe ich in Deutschlandfunk Kultur den höchsten Neueinsteiger auf der Krimibestenliste besprochen: David Peaces TOKIO, NEUE STADT
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
Ihr Tobias Gohlis
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