Digital vermittelte Sozialkontakte als Weltwährung

Als die Sängerin Anne Sophie von Markus Lanz gefragt wurde, wie sie die Null-Punkte-Klatsche beim ESC verschmerzt, antwortete sie nicht ohne Ironie: „Einen Tag später hatte ich 25.000 neue Follower.“
Was wäre, wenn diese Follower der Sängerin auf ein Konto gutgeschriben würden, mit dem sie ihre Miete, Make-up und Brötchen bezahlen könnte? Schon werten sich Loser durch Likes auf, Stars vermehren ihren kommerziellen Wert in den social media.
Martin Burckhardt denkt in seinem dystopischen Thriller SCORE eine Zeitschraube weiter. 2023 sind nach einer Reihe von Weltfinanzcrashs, nach Bürgerkriegen und Flüchtlingsströmen die Likes und Dislikes im reichen Teil der Welt verbindliche Währung. Ein freundliches Lächeln, und du bist im Plus, einmal Hamburger gegessen: dickes Minus. ECO (für Enriched Cybernetic Organism) nennt sich dieser aus Euro-Europa, Japan und noch ein paar anderen Reichen bestehende beste aller Staaten. In dieser Sphäre herrscht eitel Freude und Sonnenschein. Die Personalcomputer sind so klein, dass sie auf der Haut oder ale Brille getragen werden, Mensch und digitaler Avatar sind beinahe eins. Da die Wissenschaft nur noch der Welt- und Menschenverbesserung dient, sind Energie- und Ernährungsprobleme durch neue Technologie gelöst. Niemand muss mehr arbeiten, aber wer will, darf …spielen, Rettungssanitäter zum Beispiel. Und damit seinen Score verbessern.
Sanfte Tugenddiktatur ist das: Wer nicht sharet, liket, sich vernünftig ernährt oder positiv denkt, ist ein soziales, ökonomisches und menschliches Nullkommanichts.
So eine digitale Null landet Zur Befragug bei Damian, dem Parzival-ähnlichen Protagonisten des Romans, in der Social Design Plannning Group. Kaum hat er versucht, Daminas erste einfühlende Frage nach dem Befinden (dem Score selbstverständlich) zu beantworten, verblutet der Loser vor Damians Augen.
Was folgt, kennen wir aus Fahrenheit 451, 1984 und anderen SF-Romanen, in denen ein einzelner Kontakt zu Untergrundbewegungen bekommt und sich gegen die allmächtige Benevolenz auflehnt. Burckhardt erzählt das spannend und variantenreich. Damians Error-und-Trial-Trip führt tiefer und tiefer in die Erkenntnis der Selbstzerstörungsmechanismen einer gutherzigen Gesellschaft, in der das Böse ausgemerzt zu sein scheint wie böses Cholesterin, TBC und Gewalt.
„Seit langem beschäftigt mich die Frage, ob wir es schaffen, jetzt etwas gegen die Hungerkriege und Tsunamis zu unternehmen, die uns in 20 bis 30 Jahren überrollen werden. Oder ob wir uns als Gesellschaft weiter mit Nebensächlichkeiten wie abgehörten Kanzlerinnenhandies beschäftigen. Mein Buch geht dem nach.“ Ich traf Burkchardt bei einer netten kleinen Séance, die im Rahmen des Festivals Literatur in den Häusern der Stadt in der Art-Déco-Eingangshalle einer ehemaligen Margarinefabrik stattfand. Er plauderte vor hochgespannten Gästen mit Thomas Wörtche über Gegenwart, Welt und Spiel und seinen Roman. Ich sage nur: Wenn Ihr ihn nicht selber treffen und – höchst anregend – mit ihm plaudern könnt, LEST SCORE!
Martin Burckhardt: SCORE
Knaus, 352 Seiten
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