Samantha Harveys WESTWIND spielt 1491, aber der darin dargestellte Versuch, Schuld ungeschehen zu machen, ist zeitlos
Manchmal ist ein Kriminalroman so vielschichtig, dass er zu mehrfachem Nachdenken und den Rezensenten zu mehrfachen Rezensionen anregt.
Meine Rezension in Deutschlandfunk Kultur vom 29.1.21:
Es gibt viele Gründe, die Engländer zu beneiden. Für deutsche Krimileser ist es vor allem deren große Tradition einer literarisch und philosophisch gebildeten Kriminalliteratur, die es so in Deutschland leider nie gab. Mit dieser auch in England beinahe verschwundenen Tradition sind große Namen verbunden: Dorothy Sayers, G. K. Chesterton, Michael Innes, Reginald Hill, Andrew Taylor und neuerdings Samantha Harvey.
Die 1975 geborene Autorin, die an der Bath University kreatives Schreiben lehrt, steht in ihrer Heimat immer wieder auf der Shortlist großer Literaturpreise.
„Westwind“ spielt im Jahr 1491 im winzigen, von der übrigen Welt durch einen Fluss und seine Überschwemmungen abgeschnittenen fiktiven Dorf in Somerset. Bereits der zweite Versuch, den trennenden Fluss durch den Bau einer Brücke zu überwinden, ist gescheitert. Tom Newman, der reichste Mann des Dorfes und Motor der Baumaßnahmen, ist ertrunken. Unfall, Mord, Selbstmord?
Icherzähler und Berichterstatter ist Dorfpfarrer John Reve. Ein Dekan, Vertreter der kirchlichen Obrigkeit, ist zu seiner Kontrolle ins Dorf eingerückt. Ein 40-tägiger Ablass von den Feuerqualen der Hölle für alle, die bei Pfarrer Reve zur Beichte gehen, soll Newmans Mörder offenbaren. Reve steckt in einer Zwickmühle mittelalterlichen Formats: Nennt er keinen Mörder, fällt das Dorf samt Einwohnern an das benachbarte Kloster, liefert er dem arroganten Dekan einen Täter, muss er lügen.
Jeder von uns kennt den vergeblichen inneren Impuls, eine Schuld rückgängig machen zu wollen. Samantha Harvey spielt diesen Urwunsch in der mittelalterlichen Enge von „Westwind“ kunstvoll durch.
Beichtvater Reves eigene Beichte lässt sie ihn rückwärts erzählen: Vom Tag, an dem der Pfarrer dem Verlangen des Dekans nachgibt, bis zu jenem Morgen, an dem Newman zu Tode kam und Reve sich anderweitig schuldig machte. Doch dies ist nur der äußere Rahmen dieser unglaublich plastischen, wendungs- und anspielungsreichen Erzählung.
Harvey ist eine Malerin mit Worten: Die Bilder dieses armseligen, ersaufenden Kaffs voller Menschen, die lieber einen Mord gestehen als dereinst in der Hölle zu schmoren, prägen sich ebenso unauslöschlich ein wie das seelische Drama dieses einsamen Pfarrers, dessen Verhältnis zu Gott so zerbrechlich ist wie die Brücke, die ans trockene Ufer einer etwas moderneren Welt führen sollte.
Meine Rezension in der ZEIT vom 4.Februar 2021:
Bereits zum zweiten Mal ist die Brücke vor ihrer Fertigstellung zusammengebrochen. Sie sollte das 100-Seelen-Dorf Oakham endlich mit der modernen Welt verbinden. Zu allem Unglück ist auch noch Tom Newman verschwunden, der wohlhabende Unternehmer, Freigeist und Motor des Brückenbaus. Nur sein Hemd wird von Pfarrer Reve flussabwärts in den Rohrkolben gefunden. Ein gutes Zeichen: Die Rohrkolben symbolisieren die Arme Gottes. Er hat den reichsten Mann des ärmsten englischen Dorfs gnädig aufgenommen.
Wir sind im Jahr 1491, Westwind heißt der vierte Roman von Samantha Harvey, und einen Wind aus Westen sehnt Dorfpfarrer John Reve in den nassen Tagen der Fastnachtszeit herbei. Mit Westwind haben schon Moses und der Herr die Heuschrecken vertrieben, und ein Westwind wird auch all die bösen Geister und das üble Wetter aus Oakham vertreiben. Pfarrer Reve bittet und hofft und betet. Wie seine ihm anempfohlenen Schäfchen, denen er vierzig Tage Ablass von den Qualen des Höllenfeuers für eine Beichte in seinem Beichtstuhl – dem einzigen in England! – versprochen hat, beichtet auch Pfarrer Reve. Uns, seinen Lesern.
Westwind wird rückwärts erzählt, vom vierten Tag, an dessen Abend Reve dem herbeigeeilten Dekan den Namen eines Mörders nennt, in qualvollen Erinnerungsschritten zurück bis zum ersten Tag, an dem Tom Newman den Pfarrer in der Morgenfrühe weckte und Reve sich zum ersten Mal schuldig machte.
Ausgezeichnet wurde der Band mit dem Staunch Book Prize für Thriller, die keine Gewalt gegen Frauen enthalten. Westwind beschreibt überhaupt keine physische Gewalt, umso erdrückender sind die Gewaltverhältnisse: Der alles erstickende, an allen klebende Schlamm des über seine Ufer getretenen Flusses ist Inbild einer Welt der Armut, der Krankheit, der Ohnmacht. Der Reve vorgesetzte Dekan will einen Mörder, angeblich um zu verhindern, dass das Dorf und seine Menschen dem benachbarten Kloster anheimfallen. Reve will seine Schäfchen schützen, die lieber einen Mord gestehen, als ewig im Höllenfeuer zu schmoren. Und er selbst, „wie Jesus“ Mittler zwischen den Dörflern und Gott, wird konfrontiert mit seinem Versagen. Auch ohne Brücke dringen die lästerlichen Ideen der Renaissance ins Dorf. Westwind ist staunenswert, zeigt Enge und verzweifelte Hoffnung, Schuldige, die sich wünschen, ihr Leben gegen ein besseres austauschen zu können.
Kriminalliteratur ist zu großen Teilen Rekonstruktion: der Beweggründe einer Tat und der Spuren, die der Täter hinterlassen hat. Sehr selten wird das wie hier auch rückwärts erzählt, am Ende ist der Anfang und ist die Aufklärung. Bei Harvey wird daraus kein artistischer Trick, die Erzählweise folgt einer inneren Notwendigkeit. Wir begleiten Reves Versuch, begangene Schuld durch ein Geständnis auszulöschen. Die Zeit soll zurückgedreht werden. Jeder von uns kennt das. Aber es klappt nicht, auch in diesem Roman nicht.
Ausgezeichnet wurde der Band mit dem Staunch Book Prize für Thriller, die keine Gewalt gegen Frauen enthalten. Westwind beschreibt überhaupt keine physische Gewalt, umso erdrückender sind die Gewaltverhältnisse: Der alles erstickende, an allen klebende Schlamm des über seine Ufer getretenen Flusses ist Inbild einer Welt der Armut, der Krankheit, der Ohnmacht. Der Reve vorgesetzte Dekan will einen Mörder, angeblich um zu verhindern, dass das Dorf und seine Menschen dem benachbarten Kloster anheimfallen. Reve will seine Schäfchen schützen, die lieber einen Mord gestehen, als ewig im Höllenfeuer zu schmoren. Und er selbst, „wie Jesus“ Mittler zwischen den Dörflern und Gott, wird konfrontiert mit seinem Versagen. Auch ohne Brücke dringen die lästerlichen Ideen der Renaissance ins Dorf. Westwind ist staunenswert, zeigt Enge und verzweifelte Hoffnung, Schuldige, die sich wünschen, ihr Leben gegen ein besseres austauschen zu können.
Samantha Harvey: „Westwind“ (original 2018: The Western Wind)
Aus dem Englischen übersetzt von Steffen Jacobs
Atrium Verlag, Hamburg 2020
382 Seiten
WESTWIND ist im Januar 2021 auf Platz 6 der Krimibestenliste eingestiegen.
Christian meint
Sehr treffend und schön, dass „Westwind“ durch die Rezension hoffentlich ein wenig Aufmerksamkeit bekommt. Für mich ein herausragender und bewegender Roman von fast schon antiker Tragik. Einer meiner Lesehöhepunkte des letzten Jahres.