Reginald Hill hat mit INS LEBEN ZURÜCKGERUFEN einen Kriminalroman verfasst, der beinahe alle Elemente und Topoi des Genres variiert
Vielleicht wird es ja doch noch was mit dem deutschen Krimigeschmack. In letzter Zeit mehren sich erfreulich die Stimmen, Reginald Hill, einen der in England ganz unbestrittenen Meister und Lieblinge des lesenden Publikums, auch hierzulande mehr zu lesen. Hill ist inzwischen beinahe siebzig Jahre alt und hat seit 1970 mehr als vierzig Bücher veröffentlicht. Nicht alle sind Krimis, aber der Mann wäre doch nicht so alt und produktiv, hätte er sich durch Wiederholung des Immergleichen zu Tode gelangweilt. Literatur ist Variation, und Hill kitzelt aus zwei vertrauten Verfahren immer neue, erstaunliche Geschichten.
Das eine, manchmal ein wenig überstrapazierte Verfahren Hills ist die Anverwandlung literarischer Vorlagen. Sein jüngst vom Europaverlag publizierter Roman Ins Leben zurückgerufen (im Original als Recalled to Death schon 1992 erschienen) enthält gleich mehrere Anspielungsebenen. Das andere Verfahren, von Conan Doyle als geniales Grundmuster der Detektivstory perfektioniert, ist die Doppelung des Detektivs zum Ermittlerpaar.
„Die-ell“ und Pascoe – Hills Erzengelpaar
Hills Antwort auf Dr. Watson und Sherlock Holmes sind Andy Dalziel (ausgesprochen „Die-ell“) und Peter Pascoe. Dalziel ist der fette Bulle: grobschlächtig, bildungsfeindlich, intrigant, heimtückisch, dabei raffiniert und instinktsicher, Detective Superintendent und Chef der Kripo eines fiktiven Mid-Yorkshire in mehr als 20 Romanen. Pascoe ist aber keineswegs der anbetende Bewunderer seines genialischen Monsterchefs, sondern das nie ganz ausreichende Gegengewicht und die bessere Hälfte des notorischen Einzelgängers Dalziel: gebildet, eher sanft als gewalttätig, ein ruhiger Zuhörer, mit einem kolossalen Boß und mit der Liebe zu einer zickigen, aber schriftstellernden Ehefrau geschlagen. Dalziel und Pascoe – ein Paar, das im Krimihimmel der Deutschen einen Erzengelsitz verdient.
Die Wahrheit ist unerheblich
Im vorliegenden Fall wird Pascoes Loyalität bis an die Grenze der Belastbarkeit strapaziert. Dalziel schlägt über alle Stränge. Dubiose politische Erwägungen in London haben dazu geführt, dass ein Fall, der vor fast dreißig Jahren von Dalziels verehrtem Vorgesetzten und Lehrer gelöst wurde, wieder aufgenommen wird.
Es war, wie Hill es einem literarischen Chronisten in den Mund legt, das letzte Verbrechen des Goldenen Zeitalters. In jener Zeit dienten die realen Fälle dem englischen Kriminalroman noch als Vorbild, um den Snobismus der herrschenden Klasse zu karikieren. Das klassische Wochenendtreffen einer kleinen Snobiety-Gruppe endete mit einem klassischen Locked-Room-Mystery. Auf Mickledore Hall liegt die Gattin eines Industriellen erschossen in der verschlossenen Waffenkammer, ein Jahr später (der Skandal, bei dem Verteidigungsminister Profumo in demselben Bett einer Prosituierten gefunden wurde, das auch ein sowjetischer Spion benutzte, war gerade vorüber) wird der Besitzer von Mickledore Hall als Mörder gehängt.
Jetzt, 1991, wird die damals als Mitschuldige verurteilte Amerikanerin Cecily Kohler nach 27 Jahren Gefängnis auf höchste Weisung freigelassen – und Dalziel wirft sich in die Schlacht der wiederaufgenommenen Ermittlungen, die, so will er wissen, nur ein Ziel haben: seinem verehrten Vorgänger Dreck anzuhängen. Über jedes Gesetz und jede Vorschrift setzt er sich hinweg und bescheidet den eingeschüchterten Pascoe: „Die Wahrheit ist unerheblich, wenn man für einen Kumpel eintritt.“
Mehr Wahrheiten als Rashomon kennt
Und so unterschlägt er Beweise, führt unerlaubte Vernehmungen durch, enteilt sogar in die verhaßten Vereinigten Staaten, um seinen Kumpel zu entlasten. Doch wie der Rechtsanwalt in Charles Dickens‚ Roman Eine Geschichte zweier Städte (Anspielungsebene 1) bringt er die Wahrheit aus dem fremden Land zurück, und holt wie Orpheus seine Eurydike (Anspielungsebene 2) die immer noch verdächtige Kinderfrau ins ehrbare Leben zurück. Währenddessen bemüht sich Pascoe darum, auf dem Laufenden und bei der Wahrheit zu bleiben. Doch die ist nicht einfach: Mehr als fünf verschiedene plausible Versionen jenes Wochenendgeschehens von 1963 kommen ans Tageslicht – mehr perspektivische Wahrheiten als in Kurosawas Film Rashomon – und werden wieder destruiert.
Das ist schon als intellektuelles Rätselspiel hoch raffiniert. Doch Hill begnügt sich nicht damit. Die Wahrheit, eh schon schwer genug aus den Lügen, Täuschungsversuchen und Selbsttäuschungen der divergierenden Zeugenaussagen herauszufiltern, ist eine heiße Kartoffel. Wer sie in der Hand hat, muss den Mut haben, sie zu festzuhalten – da fällt so manche geliebte Pose und manches Vorurteil stürzt ein. So wird der fette Orpheus Dalziel vom Korruptionsbolzen zum Wahrheitsdiener. Und wir haben einen der besten Kriminalromane des letzten Jahrzehnts gelesen.
Reginald Hill: Ins Leben zurückgerufen
Aus dem Englischen von Xenia Osthelder
Europa Verlag, Hamburg, 2004; 382 Seiten
Der Beitrag erschien am 2. September 2004 in der ZEIT