Sieben Titel sind neu: je zwei aus den Vereinigten Staaten, aus Großbritannien und aus Deutschland, einer aus den Niederlanden.
Die Schauplätze: Palästina, Israel, Miami, Amrum, Tel Aviv, Bonn, Berlin, namenlose westdeutsche Provinzstadt, Oxford, schottische Insel und Festland, Irak, Milwaukee, Chicago, Wien, Budapest, Fiume, Den Haag, Afghanistan.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit drei Jahren und neun Monaten.
An der Novemberliste fällt auf, dass und wie sich der Krieg ins kriminelle Geschehen drängt. In der Hälfte aller Romane ist Krieg Hintergrund, Auslöser oder Begleitgetös. In zweien davon ist es der Zweite Weltkrieg/Holocaust, in einem der Kalte Krieg, und (wenn man mehrfach zählt) in dreien ist es Krieg im Nahen oder Mittleren Osten. Krieg ist eine Mutter aller Dinge, auch des Verbrechens.

Neu und Platz Eins im November:
1 Adama (Adama)
Lavie Tidhar erzählt die Gewaltgeschichte Israels in drei Romanen, und zwar in der Chronologie rückwärts. MAROR beginnt Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts und springt in der Zeit vorwärts und rückwärts bis 2008.
ADAMA setzt 2009 mit dem Tod Esthers in Miami ein. Ihre Tochter Hanna findet ein alte Holzschachtel, auf der der Name Wissotzky steht. Hanna fragt sich, wer ihre Mutter war und was es mit dieser Schachtel auf sich hat. In weiten, wieder anachronistischenen Sprüngen geht Tidhar in Esthers Familiengeschichte zurück, die einer jüdisch-ungarischen Familie, die durch den Holocaust zersprengt wurde. Überlebende treffen nach und nach im Kibbuz Trashim ein. Familien- wird zur Vor- und Frühgeschichte Israels, zeitlich beginnend 1945. Eine Geschichte von rigorosem Selbstbehauptungswillen in feindlicher oder als feindlich wahrgenommener Umgebung, von Überlebens- und Vertreibungskämpfen, von der dunklen, gewalttätigen Seite des Kibbuzlebens.
Lavie Tidhar kennt es aus eigenem Erleben: Er wurde 1976 in einem Kibbuz ähnlich dem fiktiven Trashim im nördlichen Israel geboren, laut Wikipedia (deutsch) war seine Mutter eine Displaced Person. Einige Passagen in ADAMA, vor allem aus der Zeit der Kindererziehung, glühen vor Empörung.
Leseempfehlung:
Der jüngst gegründete, auf hebräische Literatur spezialisiertse Verlag Altneuland hat soeben auf Deutsch die Erinnerungen einer Generationsgenossin Tidhars an ihren Kibbuz herausgebracht: Yael Neeman: Wir waren die Zukunft. Warmherzige, aber nicht unkritische Erinnerung an die Hochzeit der Kibbuzim (1940-46), sehr lesenswert.
Im Mittelpunkt der Erzählungen in ADAMA steht Matriarchin Ruth, eine israelische Mutter Courage, die alles Legale und Illegale tut, um den Kibbuz durchzubringen, und im Zweifel die eigenen Kinder opfert.
Um aus den Geheimnissen der Jury-Entscheidungen zu plaudern: noch nie in der mehr als zwanzigjährigen Geschichte der Krimibestenlisten-Jury hat es einen Titel gegeben, der so viele Stimmen wie ADAMA bekommen hat. Es ist brandaktuell, tragisch und doch Kriminalroman. Ein Wunder.
Auf Englisch ist inzwischen der dritte Band GOLGOTHA erschienen. Er setzt mit der frühen jüdischen Besiedlung Palästinas 1882 ein und endet auf den Trümmern Jerusalems nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948, der 1949 die Grüdung des Staates Israel zur Folge hatte. Auf Tidhars Homepage heißt es: „Before Jerusalem, before Jericho, there has always been Golgotha.”
Andrea Gerk, Redakteurin bei Deutschlandfunk Kultur, hat ADAMA rezensiert.
Weiterhin neu auf der Krimibestenliste November:
2 Kälter
Als ich Andreas Pflüger im Oktober 2023 zu seinem wahnwitzigen Roman WIE STERBEN GEHT interviewte, erzählte er nebenbei von einer Israelreise. Dort war er in einem guten Hotel auf einen Schabbat-Fahrstuhl gestoßen, der wegen der orthodoxen Regeln, die die Berührung von elektrischen Schaltern verbieten, in jedem Stockwerk 15 Sekunden hält. „Das werde ich in meinem nächsten Roman verwenden,“ verriet er. Jetzt, in KÄLTER, hat er eine der heißesten, überdrehtesten und aufwendigsten Actionszenen überhaupt geschrieben. Sie spielt in einem Schabbat-Fahrstuhl.
An deren Ende wird seine Heldin Luzy Morgenroth mit ihrem Gegner, dem Superterroristen Hagen List, konfrontiert, der den zentralen Satz des Romans formuliert – und sie am Leben lässt: „Wahre Macht über Leben und Tod hast du nur, wenn du dann und wann jemandem erlaubst, fürs Erste weiterzuatmen.“
Ein Kampf auf Leben und Tod wird es 1989, beinahe zehn Jahre später, als Luzy auf Amrum, dort, wo alles anfing, diesen Mörder ihres guten Freundes Jörgen stellt.
Der Rest sollte Ihr Spaß sein.
Alf Mayer hat Andreas Pflüger für seinen Verlag Suhrkamp hier interviewt.
Hinter der Bezahlschranke der FAZ die begeisterte Rezension von Hannes Hintermeier.
3 Ein widerliches kleines Gefühl
Regina Nössler hat ihr Epizentrum in Berlin leicht verschoben: Von Kreuzberg nach Schöneberg in die Kulmer Straße. Dort wohnt Evelyn, selbstzufrieden nach Trennung von der Freundin, die sie nervte. Bis eines Tages Jennifer an die Tür klopft, und sich angesichts des unverhofften Wiedersehens Ein widerliches kleines Gefühl in ihr breit macht. Jennifer will die „alte Freundschaft“ aus Grundschulzeiten wiederbeleben. Was sie auch will: Schnorren, nie gewährte Anerkennung finden.
Das begreift Evelyn zu spät, und schon ist wieder einer dieser unheimlichen Nössler-Krimis zu Ende, die das ganze Elend und die Bösartigkeit der Welt in einer dieser selten zu mietenden Mittelstands-Wohungen zu konzentrieren vermögen.
6 Sweet Fury – Zärtlich ist die Rache (Sweet Fury)
Dass Sash Bischoff eine erfolgreiche Theater-Autorin und Regisseurin ist, merkt man ihrem Debüt-Roman Sweet Fury an. So viele Doppelrollen, Twists und Intrigen auf 400 Seiten und dazu zahlreiche Anspielungen an F.S. Fitzgeralds zweiten großen Roman ZÄRTLICH IST DIE NACHT, geschickt untermauert mit ebensolchen nicht literarischen auf die persönliche Karriere in Princeton – das muss man erst mal hinkriegen.
Wie schreibt man einen feministischen Racheroman nach den Aufdeckungen von Mee Too? Vielleicht so: Man beschreibt die Dreharbeiten zu einer auf feministisch gewendeten Version des Fitzgerald-Romans (den man, da 1934 erschienen, leicht des male chauvinism überführen kann), doppelt den Plot in der Realität, um dort die Rache an dem male chauvinism der Elite-Universität Princeton zu vollziehen – selbstverständlich völlig unerwartet.
7 Down Cemetery Road – Zoë Boehm ermittelt in Oxford (Down Cemetery Road)
Der deutsche Titelzusatz Zoë Boehm ermittelt in Oxford klingt zwanghaft und weckt falsche Erwartungen: Nur dreimal taucht die erste Serienheldin Mick Herrons in seinem Debütroman auf, davon nur einmal in Oxford. Unmissverständlich wollte damit der Diogenes-Verlag den Beginn einer Reihe auf Deutsch annoncieren, die realiter vor 22 Jahren in Großbritannien gestartet ist.
Ich finde, an dieser etwas ausschweifend erzählten Flucht einer Hausfrau von Oxford nach Schottland vor einer mörderischen, geheimen Geheimdienstabteilung, ist das Spannende der miterzählte Background, der auf den Meister der späteren Slow Horses – Serie vorausweist. Mit Mord und Totschlag soll nämlich vertuscht werden, dass die britische Regierung ähnliche Chemiewaffen an Menschen getestet hat, die später der Rechtfertigung zum völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak werden sollten, obwohl man sie dort nie gefunden hat. Das Buch ist zeitgleich mit diesem Krieg 2003 erschienen, spielt aber zwei Jahre früher bei dem fast ebenso dubiosen 1. Golfkrieg, den die USA nach dem Anschlag auf die Twin Towers angezettelt haben (übrigens der bisher einzige und erste Fall der praktischen Anwendung des NATO-Artikels 5).
Diesen Hintergrund sollte – jetzt werde ich moralisch – man im Hinterkopf haben, wenn man sich an der eleganten Sprache, den skurrilen Einfällen und und überhaupt der literarischen Qualität Herrons, die hier schon zu ahnen ist, erfreut.
Hinter der Bezahlschranke Marcus Müntefering im Spiegel mit dem schönen Titel „Ein Genie schreibt sich warm“.
9 Schattennummer (Shadow Ticket)
Die Übersetzer dieses – vermutlich letzten – Romans des nunmehr 88jährigen Thomas Pynchon Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren verdienten den Nobel-Preis für Übersetzung, wenn es diesen gäbe. Für jedes Sprachspiel, jeden Reim (es werden viele Lieder gesungen), für jede Verrücktheit dieses ausufernden Phantasiespiels haben sie nicht nur eine adäquate, sondern eine – nach Maßgabe der Dinge – verständliche deutsche Lösung gefunden. Chapeau!
Was der Roman SCHATTENNUMMER ist, ist nicht leicht zu deuten. Sylvia Staude findet in ihrer Rezension Pynchon sei kunstvoll, aber anstrengend, Exjurymitglied Thomas Wörtche urteilt: „Fröhlich anarchistischer Klamauk“.
Dass Schattennummer überhaupt den Weg auf die Krimibestenliste gefunden hat, hat mit seinem Charakter als Detektivroman zu tun.
Hicks McTaggart, ehemals Streikbrecher, dann schlecht bezahlter „Privatschnüffler“ einer international agierenden Detektei, wird beauftragt, die ausgebüxte Tochter des „Al Capone des Käses“ heim in den Schoß der Familie zu schaffen. Irgendwie landet er in Mitteleuropa, schlägt sich dort mit Schaustellern, Visionären, Nazis, Antinazis, Träumen und Halluzinationen herum (und mit Feinden des den asiatischen Markt erobern wollenden Käseimperiums – ein Anti-US-Großkalauer).
Mir kam der Gedanke, dass in der US-amerikanischen Literatur schon seit längerem der Detektiv zu einer Art leeren Schablone geworden ist, die für eine ziellose, irgendwie geartete meta- oder pataphysische Suche steht. Eine Art postmoderner Zombie, noch mit umrissener Gestalt, aber beliebig ausstopfbar. D.h. auf der Suche nach jedem möglichen Sinn oder auch Unsinn. Interessanterweise sind es die Detektivhandbücher, die jedenfalls bei Sara Gran und bei Pynchon so etwas wie den roten Faden liefern.
10 Repair Club – Der Countdown läuft (Trauma)
Wieder ein Buch, dessen deutscher Untertitel Serialität signalisiert. Niederländische Leser kennen Charles den Tex, den deutschsprachigen muss man diesen raffinierten Autor mit allen Tricks bekannt machen. (Bald werden Bücher nur noch gelesen werden, wenn sie verfilmt oder von Schauspielern oder ihren Ghostwritern geschrieben sind).
TRAUMA – der niederländische Originaltitel enthält die tiefere Dimension von Repair Club – Der Countdown läuft. Vordergründig geht es um einen spannungsfördernden Coundown. Ein Afghane drückt Exgeheimdienstchef John Antink einen Zähler in die Hand: 355 Stunden hat er den Zeit, den Schützen ausfindig zu machen, der auf einem Foto eine erschossene Afghanin und ihr schreiendes Kind zeigt.
Den Tex gelingt das Kunststück, diesen spannenden Countdwon, eine weitere, damit verbundene Geheimdienstoperation und die verzweifelte Suche John Antinks nach dem Augenblick der Aufnahme so miteinander zu verknüpfen, dass alle Stränge eine plausible Auflösing finden. Übrig bleibt Schuld: die Verwicklung der Niederlande und seines Geheimdienstes in den Irakkrieg, das Versagen, nach der überstürzten Flucht der USA aus Afghanistan die lokalen Hilfskräfte zu schützen. Der Roman spielt in den Monaten davor und versöhnt mit einer schönen, märchenhaften Geste.
Dieser zweite, auf Deutsch erchienene REPAIR CLUB ist noch besser als der erste, hoffentlich bleibt den Tex bei diesem Niveau! Ein dritter ist schon angeküdigt. Zeit für die ersten beiden.
Und wo gibt es die Krimibestenliste selbst?
Die KRIMIBESTENLISTE NOVEMBER ist seit Freitag, dem 7. November 2025, auf Deutschlandfunk Kultur online. Ein zweiseitiges PDF kann dort heruntergeladen werden. Ein einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen gibt es auf meinem Blog Recoil sowie das Archiv aller Krimibestenlisten seit 2005.
Einige Neuheiten auf der Krimibestenliste November hat Kolja Mensing am Freitag, den 2.10., hier besprochen.
Rezensionen zu den Krimis der Bestenliste wie auch zu anderen Büchern sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste November nebst hochinteressanten Rezensionen.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, viele Bücher engagiert kommentiert.
Bemerkenswertes aus der Kultur- und Krimiwelt
Schon wieder eine traurige Nachricht, auch Krimiautoren werden älter und sterben.
Wir betrauern Gunter Gerlach, der nach langer schwerer Krankheit im Alter von 83 Jahren gestorben ist. Der Hamburger Autor war ungeheuer vielseitig, war Gründer der Autorengruppe PENG (der auch ich kurzzeitig angehört habe), erfand Lesungen an originellen Schauplätzen, u.a. in einer Peepshow, wo man fürs Autoren-Sehen und Hören blechen musste. Er schrieb zahlreiche Krimis, die das Genre zugleich ernst nahmen und ein wenig durch den Kakao zogen. Am bekanntesten wurde Gerlachs köstliche Figur des allergiegeplagten Privatschnüfflers Bartzsch. Gunter war ein großer Anreger, generöser Freund und innovativer Schriftsteller.




