Ein Vortrag
Friedrich Ani halte ich für einen der besten, wenn nicht für den besten deutschen Kriminalschriftsteller. Dass ich mit meiner Meinung nicht völlig allein stehe, zeigen die Preise, die Friedrich Ani bisher bekommen hat: 2001 erhielt er den Radio-Bremen-Krimipreis, 2002 den Deutschen Krimipreis und 2003 wurden nochmals gleich mehrere seiner Tabor-Süden-Romane mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet.
Zum Krimi ist Friedrich Ani zufällig gekommen. Er hatte gerade kein neues Projekt vor, als ihm die Anfrage eines Verlages auf den Tisch kam, ob er einen Münchenkrimi schreiben wolle. Daraus entstand 1996 Killing Giesing. Etwas entscheidendes war da geschehen: Friedrich Ani, der sich zuvor als Lyriker, Kinderbuchautor und Stückeschreiber erprobt hatte, war mit der Erzählform Kriminalroman zusammengestoßen.
Friedrich Ani ist ein sehr bescheidener und ein sehr konsequenter Autor, der seine Poetologie gerne vom Erzählen her entwickelt und ausdeutet. Eine Figur zu erfinden, die leben und sich entwickeln und über die er große Strecken erzählen kann, ist das heiße Zentrum seines Selbstverständnisses.
Im Mittelpunkt seines Schreibens steht die Frage nach dem guten Leben
Als sein Leser sehe ich bei ihm noch etwas anderes am Werk. Unter den vielen Fragen, um die sein Erzählen kreist, scheint mir eine der Kernfragen der Philosophie und Literatur überhaupt im Mittelpunkt zu stehen, die nach dem guten Leben. Wie können wir, wie kann einer ein richtiges Leben führen, was steht dem entgegen?
Als Friedrich Ani vor gut einem Jahr beschlossen hatte, keine Krimis mehr zu schreiben, war ein wesentlicher Punkt der Kritik an seinen Kollegen, sie nähmen die Tatsache nicht wahr und nicht ernst, dass es beim Kriminalroman um Leben und Tod geht. Genau darum aber geht es ihm, natürlich auch jetzt, wenn er seine Absicht zum Glück aufgegeben hat.
Ich denke, dass die Frage nach dem guten Leben, genauer, wie man sie im Kriminalroman erzählen kann, die Ursache dafür ist, dass Friedrich Ani etwas gelungen ist, wovon viele Autoren ein Schreiberleben lang vergeblich träumen, die sich einem Genre verpflichtet fühlen. Ihm ist es nämlich gelungen, in dieses schon etwas müde und erschöpfte Genre eine erzählerische Innovation einzuführen. Bereits in seinem 1998 erschienen dritten Kriminalroman Roman Die Erfindung des Abschieds hat Friedrich Ani dieses Konzept entworfen.
Innovation des Genres
Kommissar Tabor Süden und seine Kollegen vom Münchner Kommissariat 114 klären nämlich nicht wie in den meisten anderen Krimis Morde auf, sondern Vermissungen, Vermisstenfälle. Nicht der Tod steht am Beginn ihrer Ermittlungen, nicht die Frage nach den Umständen dieses Todes. sondern die Frage danach, warum die vermisste Person verschwunden ist. Die Suche der Kriminalisten kann zu einer Leiche führen, sie kann aber auch dorthin führen, wo jemand in ein anderes Leben gewechselt ist und den uralten Traum verwirklicht hat, sein Leben noch einmal neu anzufangen.
In Die Erfindung des Abschieds hat Friedrich Ani nicht nur eine vorgefundene Form der Arbeitsteilung der Kriminalpolizei, nämlich die Vermisstenstelle, in ein revolutionäres literarisches Konzept verwandelt. Er hat darin auch einen großen erzählerischen Rahmen konstruiert. In diesem Roman nimmt er nämlich mit dem Selbstmord von Tabor Südens bestem Freund und Kollegen das Ende einer langen Entwicklung vorweg, das er erzählerisch erst 12 Romane später und nach sieben Jahren harter Schreibarbeit im Jahr 2005eingeholt haben wird, in Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel, dem letztem Roman der Tabor-Süden-Reihe. Mir sind nur wenige Verfasser von Kriminalromanen bekannt, die ein so groß dimensioniertes und so konsequent durchgeführtes Romangebäude errichtet haben. Ani ist ein Autor mit langem Atem.
Im Ursprungsgebiet der Gefühle
Die Stärke des Schriftstellers Friedrich Ani liegt genau in dem Bereich, den viele Kriminalromane meiden. Er kann nicht nur ziemlich raffinierte Handlungen glaubhaft entwickeln, er schreibt nicht nur funkelnde Dialoge. Er beherrscht vor allem den Bereich der Gefühle: unterdrückte, hervorbrechende, verdrängte, verdrehte Gefühle. Mit der sanften Gewalt der Einfühlung dringen Anis Ermittler in jene seelischen Zonen vor, in denen Schuld, Hass, Verzweiflung, Ausweglosigkeit brodeln, in Situationen, aus denen Mord eine geradezu lächerlich leichte Ausflucht wäre. Seine Ermittler sprengen nicht als Überfallkommando die Zimmertüren der Geschlagenen und Getretenen auf, sondern betreten sie wie Heiler, die weh tun, damit es nicht schlimmer wird.
Es ist dieses — beängstigende, erschütternde, nicht immer leicht zu ertragende – Einfühlungsvermögen, das Anis Bücher weit aus der Masse der Verbrechensliteratur heraushebt. Er ergreift uns im Innern, ob wir wollen oder nicht, wir müssen ihm in die Ursprungsgebiete der Gefühle folgen, dorthin, wo sie reine, tödliche oder lebensrettende Energie sind. Dort begreifen wir, wie oberflächlich die öffentlichen Debatten darüber sind, ob die Justiz eher auf die Opfer oder auf die Täter fokussieren solle. Bei Ani verstehen wir: alle Menschen sind Opfer. Seine Romane um den charismatischen Melancholiker Tabor Süden sind keine Comédie, eher eine Élégie Humaine: Manchmal muss man aus Trauer und Verzweiflung einfach aufhören zu lesen, so herzergreifend sind die Fälle, so erschütternd das Bild, das über die seelischen und sozialen Abgründe unserer Wirklichkeit entsteht. Es sind die Einsamen, Ungetrösteten, Verlassenen, von denen er schreibt, zart, einfühlsam und respektvoll, mit Trauer über all die ungelebten, vertanen, unerfüllten und vergessenen Leben.
Der philosophische Kriminalroman
Nun stellt sich natürlich die spannende Frage, ob über das erreichte Niveau dieses Schreibens hinaus noch ein Schritt weiter möglich ist. Sind die Romane um Tabor Süden noch zu toppen? Ist Friedrich Ani noch einmal etwas richtig Neues gelungen?
Irgendjemand, ich weiß leider nicht, wer, hat den klugen Satz geprägt, der Kriminalroman sei die einzige Form von Literatur, in der auf populäre Weise Fragen von Ethik und Moral verhandelt werden können. Ich würde diesen Satz ergänzen wollen um die Bemerkung: Friedrich Ani hat mit seinem Roman um Polonius Fischer und die 12 Apostel eine populäre Form gefunden, um zugleich spannend und aufrüttelnd über philosophische Fragen zu schreiben.
Bewusst sage ich: philosophische Fragen. Das schließt die ganze Breite des zeitgenössischen ethischen Diskurses ein: etwa das Problem der Wahl- und Entschlussfreiheit, das Problem der Rechtfertigung von Gewalt, die Probleme von Schuld, Sühne und Strafe, das Problem einer normsetzenden Instanz in einer säkularisierten Welt.
Nicht die Tatsache ist bemerkenswert, dass Ani einen Protagonisten entwickelt, der Mönch war und Christ ist und in seinem Vernehmungsraum ein Kruzifix an der Wand hat, sondern sein Umgang mit dem Thema Religion. Religion hat gegenwärtig Konjunktur.
Ich komme gerade von der Leipziger Buchmesse und habe noch die Lesungen von David Peace und Andrea Maria Schenkel im Ohr, beide mehrfach auf Platz Eins der KrimiWelt-Bestenliste. David Peace rezitierte in 1977 Psalm 88: „Meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode.“ Andrea Maria Schenkel erdet in Tannöd ihre Erzählung von einem Mord auf dem Dorf mit der Wiedergabe von Fürbittegebeten.
Religion im Krimi
Religion durchzieht als basso continuo die Geschichte des Kriminalromans. Denken Sie nur an die berühmten Detektivfiguren Father Brown (G.K. Chesterton) und Rabbi Small (Harry Kemelman). Wie Polizisten dürfen sie qua Amt vordringen in die geschützten Bereiche des Heimes, der Familie und des Gewissens. Doch operieren sie noch ganz in der Tradition des Rätselkrimis: Ihre Qualifikation als Theologen dient – seien es Talmudkenntnisse oder ein in der Gemeinde trainiertes psychologisches Einfühlungsvermögen – der raffinierten Aufklärung geheimnisvoller Fälle und ihrer Bestätigung als Superdetektive, die dort erfolgreich sind, wo die Polizei versagt. Ihr Glaube bzw. Glauben überhaupt bildet nicht das Zentrum der Erzählhandlung, ähnlich wie bei den zeitgenössischen jüdischen Detektiven Peter Decker/ Rina Lazarus der amerikanischen Autorin Faye Kellerman, deren im Hintergrund der Ermittlungen fortgesetzte Debatte über die Modalitäten einer orthodoxen Lebensführung eher der Schaffung von exotischer Atmosphäre und exzentrischem Kolorit dienen.
Wie groß gegenwärtig die Sehnsucht ist, etwas Spannendes mit Metaphysik zu lesen, zeigt der Hype um Dan Browns 2003 erschienen Megaseller Da Vinci Code (deutsch: Sakrileg). Gerade an diesem Beispiel lässt sich aber auch klarmachen, wofür und vor allem wogegen Friedrich Ani schreibt. Was herrscht da für eine verdinglichte, auf puren Fetischismus reduzierte Vorstellung von Religion! Als reichten ein paar Artefakte oder – wie in Kathy Reichs‚ jüngstem Buch Totgeglaubte leben länger – ein Knöchelchen mit Jesus-DNS, um 2000 Jahre Religion umzustülpen!
Wahrheit oder Unwahrheit des Christentums hängen doch nicht davon ab, ob Jesus mit Maria Magdalena in die Kiste gesprungen ist und Kinder (eine „Blutlinie“!) hatte oder doch altägyptisch unschuldig geschlechtslos geblieben ist. Diese Art der Kirchen- und Glaubenskritik gibt vor, zur Wahrheit vorstoßen zu wollen, vergrößert und verschärft aber den Mangel an Wertorientierung, den sie zu stillen scheint. Transzendenz wird reduziert auf Forensik. Dort, wo Brown oder Reichs – wenn auch nur spielerisch unterhaltend – Wahrheit und Metaphysik vermuten, sind sie nicht.
Provokation Gott
Friedrich Ani wagt etwas ganz anderes. Tabor Süden war ein gescheiterter Gottessucher, für ihn musste es etwas jenseits der Vorschriften geben, was er aber nicht finden konnte. Polonius Fischer hat die Suche nach Gott hinter sich. Gott hat ihn fast verloren, Gott hat nicht mehr zu ihm gesprochen, aber Christ ist Fischer geblieben.
Nicht nur der Tod ist eine Provokation, in der säkularisierten Welt ist es auch der Glaube an Gott. Und der kann doch nur dann provozieren, wenn Gott selbst zur Provokation wird. Das Wagnis, das Friedrich Ani eingeht, besteht darin, diese Provokation lebendig zu machen in Gestalt eines tätigen Christen. Neulich fiel ihm bei einer Diskussion über den deutschen Kriminalroman ganz nebenbei eine neue Charakterisierung seines Schreibens ein: „Kriminalromane handeln von Menschen in Not“.
Und zu dieser Not gehören eben nicht nur die sozialen und psychischen Notlagen, die Ani schon bisher so beeindruckend beschrieben hat: Armut, Einsamkeit, Lieblosigkeit, Missachtung, sondern auch die geistige Not dahinter. Auf die man erst einmal gestoßen werden muss. So eröffnet Polonius Fischer das Gespräch mit den Eltern der Ermordeten und den Großeltern des in diesem Roman verschwundenen Kindes mit der Bitte, die Augen zu schließen. Und dann rezitiert er: „Mit lauter Stimme schreie ich zum Herrn, laut flehe ich den Herrn um Gnade …“.
Das kann ausgleiten in religiösen Kitsch. Aber hier tut es das nicht. Denn Polonius Fischer steht mit beiden Beinen im Leben. Nach dem Psalm belehrt er, korrekt nach Vorschrift, die Menschen, die er verhört, über die rechtlichen Gegebenheiten.
P-F, so heißt Polonius Fischer im Amt, praktiziert Christentum, tastend, fröhlich, irrtumsbereit. Er erinnert mich in seiner inneren Selbstgewissheit an Christian Führer, den Pfarrer der Leipziger Nicolaikirche, der sich in jeder Krise die Frage gestellt hat: Wie würde Jesus an meiner Stelle handeln. Aus dieser Haltung wurde Führer zu einem der wichtigen Leute der Revolution von 1989.
Idylle der Hyänen ist ein Roman über den Selbstmord, über den Abgrund, aus dem ein Selbstmord begangen wird, und über die Rechtfertigung des Selbstmords. Und es ist ein grandioser Roman über die Grenzen der Polizeiarbeit. Ein Mann hat sich selbst zum Richter und Henker aufgeschwungen. Er bestrafte eine Mutter, weil sie ihr Kind nicht frei aufwachsen ließ, sondern durch Missachtung zu vernichten drohte. Im Verhör wirft er der Polizei vor, das wahre Unrecht gar nicht erkennen zu können und deshalb seinen Fall zu herunterzuspielen: „Die Wahrheit wär der Welt nicht zuzumuten.“
Gerade weil die Polizeiarbeit nicht das Ganze ist, und erst recht nicht das Gerechte, hat Friedrich Ani einen neuen Anlauf genommen, zum modernen philosophischen Kriminalroman. Für Anis Schreiben gilt mit Ingeborg Bachmann: „Durchaus ist die Wahrheit zumutbar.“ Und wenn es die Idylle der Hyänen ist.
Der Text basiert auf einem Vortrag von Tobias Gohlis am 26. März 2006 und lag dem Pressexemplar des Romans bei.