Felix Webers Winterbilder der strukturellen Gewalt: „Staub zu Staub“ ist eine große Klage und ein großer Kriminalroman
Der niederländische Kriminalroman „Staub zu Staub“ erzählt eine bedrückende Geschichte aus den 1940er-Jahren. Es geht um behinderte Kinder, die in einem Pflegeheim der katholischen Kirche auch nach Ende des Krieges um ihr Leben fürchten müssen.
Staub zu Staub – der niederländische Titel Tot Stof klingt noch düsterer – ist eines der schwärzesten und traurigsten, aber auch ergreifendsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
Der niederländische Krimiautor Gauke Andriesse hat sich für seinen Gang in die dunkle Vergangenheit extra das Pseudonym Felix Weber zugelegt. Als benötige er eine andere Identität, um erzählen zu können, was damals 1949 in den Niederlanden geschah in dem fiktiven Dorf Wercke, am Ufer der Maas und nahe zur Grenze nach Deutschland gelegen.
Dieser Ort ist beherrscht vom Schatten des Klosters Sint Norbertus und das ist in den Niederlanden in jener Zeit weithin bekannt, weil es ein Heim für die Kinder betreibt, die schwer behindert sind – „unwertes“ Leben in der menschenfeindlichen Diktion der Nazis, deren Besatzungsterror erst wenige Jahre zuvor beendet wurde.
Behinderte Kinder, traumatisierte Mönche
Protagonist des Romans „Staub zu Staub“ ist der ehemalige Widerstandskämpfer Siem Coburg. In seiner kommunistischen Widerstandsgruppe war er Außenseiter, er glaubte an nichts und wurde wegen seiner Kaltblütigkeit zur Hinrichtung von Verrätern eingesetzt. Ein behindertes Kind hat Coburg vor Jahren das Leben gerettet, jetzt soll er herausfinden, wer diesen Jungen getötet hat. Unter dem Vorwand, über die Betreuung der Behinderten berichten zu wollen, dringt Coburg in das Kloster vor und stößt auf Barmherzigkeit und Gewalt. Denn die behinderten Kinder werden von Mönchen betreut, die selbst schwer traumatisiert sind.
Die kriminalistische Suche Coburgs wird von Felix Weber flankiert durch weitere Erzählstränge, die bis in das Grauen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zurückführen, aber auch den aktuellen Kolonialkrieg der Niederlande gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen des späteren Indonesien nicht aussparen.
Der Roman ist eine große Klage
„Staub zu Staub“ entfaltet in düsteren Winterbildern ein Panorama struktureller Gewalt und damit verbundener persönlicher Schuld. Der Roman ist eine große Klage, und vor allem eine erschütternde Mahnung: Die Zeiten, in denen ein Menschenleben sehr wenig wert war und die Würde vieler Menschen ein Nichts, sind kaum vergangen und schon gar nicht vorbei. Im Unterschied zur Masse der gängigen Krimis ist „Staub zu Staub“ keine Erbauungsliteratur und steht deshalb völlig zu recht auf der Krimibestenliste.
Dies ist die Textfassung meines Beitrags auf Deutschlandfunk Kultur vom 24.7.2020
Staub zu Staub stand auf der Krimibestenliste Juli 20
Was in dem Beitrag keinen Platz fand: Staub zu Staub rührt mächtig an den euphemistischen Darstellungen des niederländichen Widerstands. Obwohl eher Nihilist als Kommunist war Coburg Teil des sehr aktiven und auch militanten kommunistischen Widerstands. Dessen Geschichte ist literarisch kaum erzählt und wird überlagert von der offiziellen Geschichtsschreibung des bürgerlich-königlichen Lagers der Exilregierung in London. Auch hier schrieben die Sieger die Geschichte.
Webers radikaler sozialer Pazifismus ist nie aufdringlich, aber eindeutig. Auf seine weiteren Bücher – und deutsche Übersetzungen bin ich gespannt.
Gauke Andriesse ist 1959 geboren. Er hat zehn Jahre als Ökonom in der Entwicklungshilfe in Ecuador gearbeitet und unterstützt in Afrika Programme für Kleinkredite. In den Niederlanden sind von ihm sechs bisher nicht ins Deutsche veröffentlichte Kriminalromane erschienen. Tot Stof wurde 2017, De handen van Kalman Teller wurde 2011 mit dem höchsten niederländischen Krimipreis Gouden Strop ausgezeichnet.
Dror Mishani: die Möglichkeit eines Verbrechens
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Zsolnay, Wien, 400 Seiten
Der Beitrag erschein in der ZEIT Nr. 32 vom 20.August 2015