James Ellroy präsentiert Perfidia in Hamburg
„Wie war die Show?“ Erste Frage des Autors an den Reporter. James Ellroy ist müde. Am frühen Morgen musste er zum Zahnarzt, und das Sesselchen im Hotelcafé ist entschieden zu klein für den 1,90 Meter langen Schlacks. Am Abend zuvor hatte er im Hamburger Literaturhaus seinen neuen Roman PERFIDIA vorgestellt.
Nur mit Mühe ertrug er erste einführende Worte. Als der Moderator seinen Namen zum zweiten Mal erwähnte, schnappte er sich das Mikro: „Good evening peepers, prowlers, pederasts, panty-sniffers, punks and pimps. I’m James Ellroy, the demon dog, the foul owl with the death growl, the white knight of the far right, and the slick trick with the donkey dick. I’m the author of 19 books, masterpieces all.“ Seit fünfzehn Jahren intoniert der selbsternannte „Beethoven der Kriminalliteratur“ diesen Rap. Neu an diesem Abend war nur „Reverend Ellroys“ Versprechen: Jeder, der 2000 Exemplare von PERFIDIA kaufen würde, käme in den Himmel und hätte zuvor perfekten Sex. Die Fans waren happy.
Ellroy, Anfang März 67 geworden, ist mit PERFIDIA zu seinen Anfängen zurückgekehrt. PERFIDIA ist der erste Band eines neuen L.A.-Quartetts. Es spielt in den dreiundzwanzig Tagen zwischen dem 6. und dem 28. Dezember 1941, als nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbour der Zweite Weltkrieg Nach Los Angeles kam. Drei Bücher sollen folgen, am zweiten schreibt er bereits. Mit dem ersten L.A.-Quartett, das die Jahre 1946 bis 1959 abdeckt, wurde Ellroy als Kriminalschriftsteller weltberühmt.
Was hat ihn dazu gebracht, zurückzugehen in die Zeit vor seiner Geburt 1948, zurück in die Vorgeschichte seiner Helden aus den späteren Romanen? Es ist die Rückkehr an den Ursprung seiner Inspiration, seine Kindheit. „Als Kinder waren wir besessen von Nazischeiß. Wir zeichneten Panzer, Hakenkreuze und Stukas. Auch die jüdischen Jungs, mit denen ich zur Schule ging. Ich war überzeugt, wir wären immer noch im Krieg.“ Wie bitte? „Ja, wir sahen dauernd Wochenschauen mit Hitler, Dokumentarfilme vom Krieg. Wenn wir spielten, hockte hinter jedem Busch ein Nazi. Der Koreakrieg 1951 bis 1953 spielte keine Rolle. Ich war schwer geschockt, als meine Mutter mir sagte: Der Zweite Weltkrieg, das war vor deiner Geburt.“
Ellroy spricht, als wolle er jede Silbe in Stein meißeln, mit dem Hammer des Autodidakten.
Seine Maxime: „Ich schreibe über die persönlichen Albträume der öffentlichen Geschichte.“ Sechs Seiten umfasst das Verzeichnis der realen und erfundenen Personen, das er PERFIDIA beigegeben hat. Bert Brecht, Bette Davis und Sergei Rachmaninow sind darunter. Die meisten „realen“ Promis haben Cameo-Auftritte, sind historische Set-Dekoration. Oder PR-Futter. Bis auf Bette Davis. Im Bett flüstert die spätere Truppenbetreuerin ihrem Lover Dudley Smith, einer der vier Hauptfiguren des Romans, ins Ohr: „Bring mir einen Japsen um.“ Sergeant Smith spaziert mit der „moralischen Selbstsicherheit, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen“ in die Nacht und erschießt den ersten Japaner, den er antrifft.
An Dudley Smith, einer Figur von albtraumhaften Dimensionen, lässt sich der fließende Übergang von wahrscheinlich über noch glaubhaft zu irrer Präsenz nachzuvollziehen, der Ellroys Geschichtsbearbeitung kennzeichnet. Dudley verlor seine Unschuld im irischen Osteraufstand 1916, emigrierte in die USA, wurde von Joe Kennedy (real) als Streikbrecher und Killer eingesetzt, wechselte an die Westküste und dient jetzt den Polizeibossen und Mobster Bugsie Siegel (real) als Auftragsmörder. Zugleich plant er geheime Luxusunterkünfte für reiche Japaner, die der Internierung entgehen wollen, die er für Pornos und als Bordelle profitabel nutzen will, sondiert die Möglichkeit „eugenischer“ Gesichtschirurgie, trinkt mit dem katholischen Bischof Tee und versucht, den Mord an einer Familie von japanischen Einwanderern gleichzeitig aufzuklären und für propagandistische Zwecke zu manipulieren.
Vermutlich dürfte es selbst Ellroy schwer fallen, die Realitäts- von den Fiktionsanteilen sauber zu trennen. Aber das will er auch nicht. Lieber irritiert er die Kellnerin mit ein bisschen Wolfsknurren, als Fragen nach seinen Recherchen zu beantworten.
„Ich recherchiere nicht, ich lasse mir von Rechercheuren die Fakten zusammenstellen, die ich zum Ausgangspunkt meiner Geschichte nehme.“ Wusste er, dass der von ihm in PERFIDIA beschriebene Angriff eines japanischen U-Boots auf den Küstenort Goleta tatsächlich zwei Monate später stattfand? „Das habe ich erfunden. Purer Zufall, dass die Japaner das tatsächlich gemacht haben. Wissen Sie, ich lebe in dieser Zeit. Darauf kommt’s mir an. Fragen Sie mich nicht nach Fakten.“ War er am Schauplatz des Mordes an der japanischen Familie? „Nein.“ Gab es ähnliche Fälle von Boden- und Immobilienspekulation mit japanischem Besitz, wie er sie beschreibt? Ellroys Standardantwort: „Entweder ist es erfunden oder es ist wahr. Das müssen Sie selber herausfinden.“
Vieles, wie die plotrelevante verbrecherische Verseuchung von Mutterboden mit Shrimpöl, lässt sich unter schwarzer Humor à la Ellroy subsumieren. Aber wie steht es mit den Figuren, die sowohl in der Realität als auch in Ellroys Roman existierten? Jim Davis, der zweifache Chef des LAPD ist ein klarer Fall: ein korrupter Verbrecher, auf beiden Ebenen. Und William H. Parker, 1941 Leiter der Verkehrsabteilung, zuständig für die Planung der Internierung aller japanischen Einwohner, ab 1950 bis 1966 Polizeichef von Los Angeles?
Schwankend zwischen Gesetzestreue und grenzenloser Ambition lässt er kommunistische Zellen bespitzeln, verfällt erschöpft in Prügelorgien, säuft sich fast ins Koma. Kommunistische „Pamphlete“ beschimpfen ihn als „treibende Kraft beim künftigen Polizeistaat Los Angeles“ – aus der Zukunft zurückprojizierte Kritik. Und wie sieht Ellroy selbst diesen Mann, den Afroamerikaner und Latinos als Rassisten erlebt haben? „Ich verehre starke Männer. Chief Parker wird in Los Angeles von vielen geliebt und von einigen zutiefst verehrt. Er war der größte Polizist der USA im zwanzigsten Jahrhundert. Er war ein Visionär.“
In Ellroys literarischer Welt gibt es kein moralisches Gefälle, geschweige denn herkömmliche Gut-Böse-Kontraste. Seine Figuren unterscheiden sich nur in der Intensität ihrer Obsessionen und im Ausmaß ihrer Verwirklichung voneinander. Diffusen Kampfes- und Lebenswillen teilen auch die beiden anderen Hauptfiguren. Die 21-jährige Kay Lake, das Tagebuch-Ich im Konzert der Stimmen, ist unendlich wandlungs-, liebes- und tötungsfähig.
Ellroy: „Sie ist übernatürlich. Kein Mann besitzt diesen Mut, diese Gaben.“ (Selbst-) Überwinder ist auch der japanische Kriminaltechniker Ashida. Als „Nisei“ – in den USA geborener Japaner –versucht er, der drohenden Internierung zu entkommen, indem er nicht nur hervorragende Dienste als Spezialist leistet, sondern auch als Verräter. Er denunziert zwei unschuldige Japaner, um sich in der Sonne des LAPD zu wärmen.
Ellroys Geschichtsschreibung der Albträume ist detailbesessen aus den Perspektiven seiner vier Protagonisten konstruiert. Eine andere Sicht als die fiebrige der wahnhaft patriotischen Landesverteidiger, die überall „Fünfte Kolonnen“ ausfindig machen wollen, aber herzhaft mit der nazifreundlichen Rechten paktieren, gibt es nur als ironisches Zeit-Zitat.
Ellroy gibt sich postmodern literarisch: „Das einzige, um das es geht, ist die Sprache. Ich liebe amerikanische Umgangssprache, den KKK-Slang, Jiddisch oder schwarze Hipstertexte.“ Tatsächlich verdankt sich ein Großteil seiner Anziehungskraft dem virtuosen und bis zur Pöbelei genauen Gebrauch von Slogans, Politphrasen, Yellow-Pressetexten, Vorurteilen und Insinuationen.
Der alltägliche Rassismus, die offene Polizeibrutalität, der miteinander verquickte Gangster- und Hollywoodrummel der Kriegs- und Nachkriegsjahre in Los Angeles sind ein mythengeladenes und von Ellroy immer weiter mythisiertes moralisches Niemandsland. Seit seinem Durchbruch mit der SCHWARZEN DAHLIE 1987 zitiert Ellroy Ross MacDonald: „Am Ende besitze ich den Ort meiner Geburt, und ich bin besessen von seiner Sprache.“ Ist er auch besessen von Los Angeles? „Nein – oder doch. Ich will es genauer formulieren: Ich bin besessen von seiner Vergangenheit.“ Das hat natürlich mit Ellroys Vergangenheit zu tun.
1958 wurde Ellroys Mutter ermordet. Bis zu seinem 27. Lebensjahr trieb er sich als Kleinkrimineller und Junkie herum. Dann begann seine Jagd nach dem Mörder seiner Mutter und nach dem Mutterbild selbst. Zunächst literarisch: Alle seine männlichen Figuren suchen die Mutter-Hure-Heilige. Ebenso vergeblich wie Ellroy in jahrelangen Versuchen, den Fall seiner Mutter aufzuklären. Der erwachsene Autor hat die pubertären Fantasien und Albträume des Heranwachsenden zu Epen verdichtet, die wie sein eigenes Leben zwischen realem Horror und Wahn delirieren. Dagegen setzt Ellroy den „größenwahnsinnigen Anspruch“ des Erzählers. Daher der Vergleich mit Beethoven. „Ich verehre ihn als den größten, als den revolutionärsten Künstler, den unsere Zivilisation hervorgebracht hat.“ Und was verbindet Sie miteinander, die Art des Schreibens und des Komponierens? „Es ist die Ambition. Er wollte immer besser werden, bis zum Ende. Das will ich auch.“
James Ellroy: Perfidia
Aus dem Englischen von Stephen Tree
Ullstein, 956 Seiten
Manuskript eines nicht veröffentlichten Beitrags, der im März 2015 nach einem Gespräch mit James Ellroy in Hamburg entstand.