Fünf Titel sind neu: je einer aus Irland, Schottland, Nigeria, und zwei aus den USA.
Die Schauplätze: Dalkey, Edinburgh, Manhattan, überall auf der Welt, Lagos, Tallahassee, Issaquah.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit zwei Jahren und elf Monaten.
Wegen der Feiertage zum Jahreswechsel wurde ausnahmsweise die Veröffentlichung der Krimibestenliste und damit auch dieser Newsletter vom ersten auf den zweiten Freitag des Monats verschoben
Neu auf Platz Eins im Januar:
1 Jenseits aller Zeit (Old God’s Time)
Noch nie hat der irische Autor Sebastian Barry (*1955 in Dublin) in seinem vielfältigen Schaffen als Lyriker, Theaterautor und Romancier so nahe am Kriminalroman geschrieben wie in JENSEITS ALLER ZEIT. „Ein Meisterwerk“, urteilte Thomas Wörtche.
Seit neun Monaten genießt Ex-Detective-Sergeant Tom Kettle seinen Lesesessel in seinem Apartment im komfortablen Queenstown Castle mit Blick auf die Bucht von Dublin. Da bricht, aufgestaut wie eine Geburt, die Wirklichkeit von Erinnerung und Gegenwart in seinen Seelenfrieden ein. Zwei junge Detectives laden ihn, höflich, ein, irgendwann einmal im alten Revier vorbeizukommen, um aus seinen Erfahrungen zum ungelösten Todesfall eines Priesters auszusagen, in dem er ermittelt hat. Und bei dem er, wie sich herausstellt, auch Zeuge war. Ein so unzuverlässiger, wie er auch als Erzähler ist, denn in den aufgewühlten Wust verdrängter, unterdrückter Erinnerungen, den dieser Auftrag auslöst, mischen sich Geister, Träume, Halluzinationen, Rechtfertigungen. Ein traumatischer Müllhaufen aus Erinnerungs- und Faktenfetzen an die Gewalt, die er als Polizist und Soldat in Malaya und Palästina ausgeübt hat, und an die, die seine über alles geliebte Frau und seine Kinder ertragen mussten.
In all dem Vergessenen, das Barry kunstvoll mit Blitzen aus der auch nicht völlig friedvollen Gegenwart erhellt hervorruft, tauchen – umso schrecklicher, weil sie eigentlich JENSEITS ALLER ZEIT versenkt schienen – Realitätsfragmente von Kindesmissbrauch, sexueller Gewalt gegen Schutzbefohlene und politischer Vertuschung auf, die in den 1990er Jahren, in denen der Roman spielt, noch weitgehend unbekannt waren. Eben weil die unheilige Allianz von katholischer Kirche, Politik und Justiz sie vertuschten.
Barry erweist sich in JENSEITS ALLER ZEIT einmal mehr als großartiger Darsteller von Gewalt, Einsamkeit, Schuld, Trauer und Verlust, aber auch von Trost und leiser Befriedung. Ein weiteres grünes Juwel aus der Belletristik-Abteilung des Steidl-Verlags.
Außerdem neu auf der Krimibestenliste Januar:
6 Einbalsamiert (The Great Silence)
Im dritten Band EINBALSAMIERT seiner Reihe um die Skelf-Frauen – Großmutter Dorothy, Mutter Jenny, Tochter Hannah – die gemeinsam eine Privatdetektei samt angeschlossenem Beerdigungsinstitut betreiben, geht Musiker, Astrophysiker und Autor Doug Johnstone auf’s Ganze. Auf’s Ganze seiner Leidenschaften: Dorothy und Ziehtochter Abi entladen Aggressionen am Schlagzeug; Hannah forscht, inzwischen Doktorandin, über das Paradox, dass es so viele erdähnliche Planeten gibt, aber keine Nachricht von Aliens, die dort eigentlich leben müssten.
In den ziemlich turbulenten, ganz Edinburgh und drum herum streifenden herzergreifenden Handlungssträngen (Entführung, Selbstmord, Leichenteile, Exhumierungen, Tierliebe) stellt sich immer deutlicher eine Frage nach dem Zusammenhang oder besser: Sinn. Oder ob all das Lieben, Streben, Rauben, Sterben einfach nur so zum Leben dazugehört? Das hat dem Buch seinen etwas metaphysischen Originaltitel THE GREAT SILENCE gegeben: Auch von den Aliens, geschweige denn von anderswo ist was zu hören. Ein bisschen erinnert Johnstones Schreiben an den amerikanischen Philosophen Martin Hägglund, der einen Glauben jenseits der Religionen, also ohne Gott, entworfen hat. Johnstone geht das amüsanter an, auch im Metaphysischen und Astrophysischen, weiß Hanspeter Eggenberger.
8 Assassins Anonymous
Zum Subgenre der Serienkiller-Literatur (s.u. #10) hat sich ein Sub-Sub-Genre gesellt. Das beschäftigt sich mit der Seelenlage der Auftragsmörder, mit dem gnadenlosen, internationalen Wettbewerb darum, wer der Beste ist, und mit dem Burn-out, das mit dieser Gnadenlosigkeit verbunden ist. John Brownlows SEVENTEEN und sein Folgetitel EIGHTEEN spielen mit dem Wettbewerb, ASSASSINS ANONYMOUS von Rob Hart hat es eher mit dem Kater zu tun, der einen Auftragsmörder befällt, der zu viel Adrenalin verbraucht hat.
Mark, ehrfürchtiger Kampfname „Fahles Pferd“ (nach der Apokalypse Symbol des Todes), war der Beste. Jetzt unterzieht er sich in einem Kirchenkeller zusammen mit anderen Auftragskillern der Zwölf-Schritte-Selbsttherapie anonymer Alkoholiker, um nicht mehr zu töten oder das abzutöten, was in ihm Töten will. Aussteigen aus den Kicks, die das Leistungsprinzip einem abverlangt. Aber wie das im Leben so ist: Es gibt immer noch einen, der es wissen will, und Mark muss auf 330 wendungsreichen, amüsanten Action-Seiten heftig kämpfen, um seinem Anspruch gerecht zu werden, nicht mehr zu töten. Obwohl das diesen tollen Adrenalin-Kick auslöst. Einzige wirkliche Schwäche dieses ein bisschen schwachsinnigen Buches: Der dem Sub-Sub-Genre eigene Zwang zu wilden Twists erfordert so viel Verrat, das man sich selbst als geübter Konsument von Irrealitäten die Augen reibt.
9 Gaslight
Der in Nigeria ausgebildete, lange Jahre in den USA und jetzt in Namibia lebende Psychologe Femi Kayode hat bereits in seinem Krimi-Debüt LIGHTSEEKERS quälende Probleme seines Geburtslandes in einem spannenden Krimiplot aufgegriffen. Hatte es der forensische Psychologe Dr. Philip Taiwo damals noch mehr mit Phänomenen der Massengewalt zu tun, ist es diesmal die Massenhysterie (der Gläubigen), die eine Mega-Church erzeugt, um im Hintergrund Übles zu treiben.
Der auch den skeptischen Taiwo faszinierende, charismatische „Bishop“ einer solchen Mega-Church soll seine junge Frau getötet haben, so heißt es im Haftbefehl gegen ihn. Blutspuren in seinem Haus erweisen sich aber unter den gewieften Blicken Taiwos als Fake – „Bishop“ Dawodu wird freigelassen. Doch Taiwo ermittelt weiter, auch gegen den Widerstand der Kirche, die ihn beauftragt hatte, erst recht, nachdem tatsächlich die Leiche der jungen Frau aus dem Hafenbecken gezogen wird.
Heuchelei, Missbrauch, schmutzige Geschäfte sind auch in anderen, näher liegenden Kirchenkreisen vertraut. Aber in Nigeria, mit 230 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichster Staat Afrikas, sitzen auch zwei der reichsten Pastoren weltweit, jeweils mit eigener Mega-Church. Kayode beteuert zwar, sein Plot habe kein Vorbild in der Wirklichkeit, aber die im Roman verstreuten Indizien zeigen ziemlich deutlich auf diese beiden Mega-Churches, eine von ihnen hat das größte sakrale Gebäude der Welt errichtet.
Die Blutspuren im Haus des „Bishops“ sind zwar gelegt, sollten aber dazu dienen, das Augenmerk auf viel größere Verbrechen zu richten. Die, versteckt hinter Kirchengewändern und Gläubigenmassen, haben es in sich. Ein weiteres Sittenbild aus Nigeria. Man beginnt zu ahnen, warum Kayode, durchaus ein gläubiger Mensch, mit seiner Familie lieber in Namibia lebt. Die Teenager-Tochter Taiwos, die ein angesehenes Gymnasium besucht, wird von ihren Mitschülerinnen gemobbt, weil ihre Hautfarbe zu dunkel ist.
10 Bright Young Women
Normalerweise kritisiere ich an dieser Stelle, in meinem Newsletter der Krimibestenliste, die Kriminalromane nicht, die es auf die Krimibestenliste geschafft haben.
Hanspeter Eggenberger hat in seinem Blog krimikritik.com die Vorzüge von Jessica Knolls BRIGHT YOUNG WOMEN gewürdigt. Insbesondere die Idee, die sie nicht als einzige feministisch orientierte Autorin verfolgt, Serienmördermythen aus der Sicht der Opfer zu dekonstruieren.
Fragwürdig ist Knolls Upper-Middle-Class-Perspektive, die sie mit ihrer Protagonisten Pamela teilt. Auch wenn die Erzählerin den 1978 nach seinem vorletzten mörderischen Anschlag auf das Wohnheim einer Studentinnenverbindung gefassten Massenmörder aus dem Abstand von 2021 strategisch nur „den Angeklagten“ nennt, weiß es jeder Klappentext und jede Rezension, dass es sich bei ihm um Ted Bundy handelt, und die Figur der Pamela zwei weithin bekannten Augenzeuginnen nachempfunden ist, deren Aussagen und Bücher leicht im Internet zu finden sind. Pamela aus wohlhabender Familie stört sich an der Anerkennung die (historisch verbürgt) der Richter dem sich selbst verteidigenden Angeklagten zollt, in dem er ihn als einen „bright young man“ bezeichnet. Pamelas (und Knolls) Konstruktion der weiblichen Brightness ist zu einem Teil klassistisch. Ausgiebig wird Pams höchstwertige akademische Ausbildung an der Columbia – einer der Ivy-League-Unis – Bundys erschlichener, mit zwei Semestern unabgeschlossener Juraausbildung gegenübergestellt, und ihre zwar lieblose, aber finanziell und akademisch stabile Herkunft herablassend den armseligen Verhältnissen kontrastiert, aus denen Bundy stammt.
Aufklärung sieht anders aus, sie wird nicht vom hohen Klassensockel aus „bright“. Und auch die breit ausgewalzte und mühselig mit Pams Schicksal verknüpfte parallele Leidens- und Familiengeschichte eines lesbischen Opfers trägt nur insofern dazu bei, als sie die Unterschlagung von Indizien nicht nur mit polizeilicher Schlamperei samt Chauvinismus, sondern auch noch mit der Sexualmoral der späten 70er Jahre begründet, die homosexuelle Liebe als unnatürlich und teuflisch verurteilte.
Aber bilden Sie sich selbst eine Meinung!
Wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE JANUAR?
Die KRIMIBESTENLISTE JANUAR ist seit Freitag, dem 10. Januar 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Jurymitglied Kolja Mensing gibt einen Überblick über die aus seiner Sicht bemerkenswertesten Titel im Deutschlandfunk Kultur.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 6. Januar hat Thomas Wörtche über die Nummer eins der Krimibestenliste Januar JENSEITS ALLER ZEIT gesprochen.
Kommende Rezensionen zu den Krimis der Bestenliste wie auch zu anderen Büchern sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Januar nebst hochinteressanten Rezensionen nicht nur zu den Titeln der Krimibestenliste.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Bemerkenswertes aus der Kultur- und Krimiwelt
Unsere Krimibestenliste 2024 ist immer noch online, zu finden als einseitiges PDF zum Herunterladen und in einer breiteren bebilderten Fassung hier.
Der DEUTSCHE KRIMIPREIS benennt jährlich die vier besten deutschsprachigen und die vier besten internationalen Krimis des Jahres. Unter den Siegern befinden sich etliche Titel, die auch auf den Krimibestenlisten des Jahres standen.
Ich wünsche Ihnen nachträglich ein friedliches, glückliches 2025 und gute Lektüre!
Hamburg, am 10.1.2025
Ihr Tobias Gohlis