Die Krimibestenliste im Juli: Drei Neue aus drei Kontinenten: aus Nigeria, Malaysia und Schottland
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Wer sie noch nicht kennt, sollte sich die University of East Anglia merken. Hier, in Norwich, einem Zentrum der internationalen Autorenausbildung, lehrte nicht nur W.G.Sebald, hier studierten auch Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro sowie die Autoren Taw Ash und Femi Kayode, deren neue Bücher nicht nur zufällig gemeinsam auf der Krimibestenliste Juli stehen.
Taw Ash und Femi Kayode stehen für zwei Tendenzen der Weltliteratur, die sich zunehmend auch in der Kriminalliteratur durchsetzen: Internationale Autoren verlassen ihre Ursprungsländer, studieren und machen Karriere in den ehemaligen Kolonialländern bzw. den USA und wenden sich dann wieder der gesellschaftlichen Situation ihrer Ursprungsländer zu, publizieren aber in Englisch oder Französisch. Dadurch verwandeln sich die Sprachen und Literaturen der ehemaligen Kolonialherren und werden zu Stimmen der jeweiligen Völker und neuen Nationen. Und zu immer gewichtigeren Stimmen der globalen Kriminalliteratur.
An einen Topos der aufklärerischen Gesellschaftskritik, die Satire eines Ausländers oder aus dem Ausland Zurückgekehrten, erinnert Femi Kayodes LIGHTSEEKERS, der übrigens als Abschlussarbeit an der UEA entstand und dort einen Verlagspreis gewann.
Sein Ermittler Dr. Philip Taiwo ist, so Kayode in einem Interview, Returnee, in den USA ausgebildeter und lange praktizierender forensischer Psychologe, der nicht mit den Aussagestrategien von Serienmördern, sondern mit speziell nigerianischen Phänomen, nämlich Lynchmorden und kriminellen Studenten-Kults, konfrontiert wird.
LIGHTSEEKERS war ursprünglich als True-Crime-Novel geplant über einen Lynchmord, der 2012 tatsächlich an vier Studenten an hellem Tag begangen wurde. Er wurde berüchtigt als „The Aluu Four Lynching“ aus dessen Rekonstruktion Kayode ein schwarzes Panorama der ethnischen, religiösen und sozialen Konflikte Nigerias entwerfen wollte. Aus Rücksicht auf die Opferfamilien und die literarische Freiheit wurde daraus ein Kriminalroman, der auch nach den Maßstäben von Kritikern aus Nigeria innovativ die Krimisteretype („strangulation of a woman by her lover“) durchbricht. Auch das Doppelgängermotiv (bewusst ungenau formuliert, um nicht zu spoilern) Kayodes ist schon älter.
Interessanterweise liest der nigerianische Kritiker Tọ́pẹ́-ẸniỌbańkẹ́ Adégòkè LIGHTSEEKERS als „Campus-Noir“ in der Tradition der „Campus-Novel“, weil darin kriminelle Studenten-Kults eine wichtige Rolle spielen. Diese Kults entstanden – übrigens unter Beteiligung von Wole Soyinka – als Brotherhoods von Studenten, die ethnische, religiöse und soziale Konflikte im Sinne einer fortschrittlichen Nationalität überwinden wollten, aber später zu kriminellen Banden degenerierten. Kayode nennt sie verständnisvoll „Rebellen ohne Sache“. Mag auch manches an dem Debütroman LIGHTSEEKERS gewieften Lesern ein bisschen holperig vorkommen: Auf der Krimibestenliste ist dieser Roman genau richtig.
Erinnert LIGHTSEEKERS mit seiner ermittler-fokussierten Struktur noch halbwegs an traditionelle Krimiformen, ist Tash Aw in WIR, DIE ÜBERLEBENDEN weit von diesen entfernt. Der Mörder steht fest, er ist nach drei Jahren Haft schon wieder aus dem Gefängnis entlassen. Ah Hock, aus Südchina nach Malaysia eingewanderter Hilfsarbeiter, berichtet der in den USA ausgebildeten Soziologin Su-Min von seinem Leben. Nur sporadisch unterbrochen von Diskussionen zwischen den beiden, die sich kulturell nicht fremder sein könnten, ist WIR, DIE ÜBERLEBENDEN das Memorial eines chinesischen Migrranten, der es trotz Überschwemmungen, trotz Diskriminierung durch unermüdliche Arbeit bis zum Vorarbeiter einer Edelfischzucht gebracht hat.
„Suffering as a natural part of life“ nennt Tash Aw die Lebenseinstellung seiner Eltern und Großeltern, die auch die Ah Hocks ist. „My parents and those of their generation grew up with the belief that they were entirely in control of their destiny, and that the life they ended up with was that which they created for themselves.“
Aws Kunstfertigkeit besteht darin, dass Ah Hock von diesem nicht endenden Leiden, aus seiner „südostasiatischen Mentalität“, als gegebenen Tatsachen berichtet, aber so, dass einer empathischen Leserin oder Leser die Galle zu kochen beginnt. Immer nur seinen Job tun, die wahnwitzigen Zielvorgaben des Chefs erfüllen – so sehr unterscheiden sich die Paketpacker bei Amazon und der Südchinese Ah Hock nicht. Und das, was er tut, in einer als ausweglos erlebten Situation, liegt jedem Opfer der Globalisierung, deren Sklaven-Lieferketten jetzt gerade reißen, nahe: Blindlings um sich schlagen.
In der Fischzucht grassiert eine Seuche, die importierten Arbeiter aus Bangladesh haben Cholera, neue Opfer des internationalen Menschenhandels müssen beigeschafft werden, damit die Farm nicht kaputt geht, da eskaliert ein Streit um Geld („Immer geht es um Geld“) zwischen Hocks Sklavenhändlerkumpan und einem Bangladeshi, der Freund gerät in Gefahr, da greift Hock zu einem Holzprügel… Und all das aufgestaute Leid, die Lieferkette des Leids und der Demütigung, die hier nur ganz Südostasien erfasst, bricht sich mit einem und dann immer mehr Schlägen Bahn.
Der Mörder ist nicht Ah Hock, der Mörder ist der globale Kapitalismus, und da kann keine Soziologie was dran ändern. Wie sich diese Einsichts-Schlinge immer stärker auch im westlichen, konsumierenden Hirn zuzieht, ganz langsam, ist ebenso schrecklich wie unausweichlich.
Tash Aw ist kein Returnee, er lebt als Anwalt und Schriftsteller in London. Mit seinem ersten Roman DIE SEIDENMANUFAKTUR ZUR SCHÖNEN HARMONIE über Kolonialismus, Besatzung und Freiheitskampf in Malaysia von 2005 wurde er berühmt. Anlässlich der Veröffentlichung von WIR, DIE ÜBERLEBENDEN sprach er in einem Interview über die postkoloniale Lage. Sein Fazit: „We’ve spent three decades wondering how to transform ourselves into something better, but I wonder if we’ve lost sight of what being better really means.“
Noch voller jugendlichem Optimismus denkt die inzwischen auch schon 67-jährige Val Mcdermid an ihre Anfangszeiten als Reporterin zurück, die es zu etwas bringen wollte. Rückkehr zu den Wurzeln nicht nur im ersten Band der auf fünf Teile in fünf Dekaden geplanten Serie um die Journalistin Allie Burns 1979 – JÄGERIN UND GEJAGTE, sondern auch zu ihren schriftstellerischen Anfängen mit der lesbischen Journalistin/Ermittlerin Lindsay Gordon. Entstanden ist ein nostalgisch-realistisches Buch aus der Bleisatz-Epoche der Homophobie, des Geheimdienst-Wahnsinns und saufender Journalisten, das lustig-zornig an noch gar nicht so lange überwundene schreckliche Zeiten erinnert.
Die Krimibestenliste Juli ist seit Freitag, dem 1. Juli, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Und bereits am Freitag morgen habe ich bei Deutschlandfunk Kultur LIGHTSEEKERS als höchsten Neueinstieg besprochen. Und hier der Text dazu.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Sommertage!
Ihr Tobias Gohlis