DIE KRIMIBESTENLISTE IM SEPTEMBER: 6 Neue aus sechs Ländern: Australien, Barbados, Malaysia, Deutschland, Großbritannien, Irland
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Das hat nichts mit der Teuerung zu tun: alle sechs Neuen sind ausnahmsweise Hardcover und unter 24 Euro nicht zu haben. Dafür gibt es MEHR FÜR ALLE: 2600 Seiten funkelnagelneuer Krimistoff.
In STUNDE DER FLUT von Garry Disher nimmt Charlie Deravin Abschied. Von seiner Mutter, die schon vor zwanzig Jahren verschwunden ist. Von seinem Vater, der Covid 19 hat und beschuldigt wird, sie getötet zu haben. Vom Polizistenjob und von den Polizisten alter Schule. Ein melancholischer Roman, der wie alle Abschiede, die ausgekostet werden, tief in alle Ecken guckt, in die der Lieblosigkeit, des Schweigens, der Einsamkeit, der zurückschlagenden Natur und der gefälschten Berichte.
Im Unterschied zum altersweisen Meister Disher ist Cherie Jones völlig neu mit ihrem Debüt WIE DIE EINARMIGE SCHWESTER DAS HAUS FEGT. Und dazu noch aus Barbados. Meines Erachtens der erste Krimi überhaupt aus dem karibischen Inselstaat. Drastisch, in einer wilden, empörten, mitleidenden Sprache erzählt Jones vom Leid der jungen Mutter Lala, die in der Machowelt der barbadischen Armen ihr Neugeborenes verliert und trotzdem den alten Mütterfluch unterläuft, böse Mädchen könnten nicht fegen.
Ebenfalls ein Debüt – in mehrfacher Hinsicht – ist Chuah Guat Engs ECHOS DER STILLE. Chuah ist 1943 geboren, Malaysierin chinesischer Herkunft und besteht darauf, dass wie in China und Japan ihr Nachname als erstes genannt wird. ECHOS DER STILLE (erstmals veröffentlicht 1994) ist nicht nur ihr erstes Buch, sondern auch das erste, das von einer Malaysierin nach der Unabhängigkeit auf Englisch verfasst wurde. Auf den 460 Seiten mit Glossar und historischem Abriss gibt sich die Ich-Erzählerin Ai Lin, die an der LMU in München studiert hat, zunächst altmodisch („Elementar, mein lieber Watson“) bei der Ermittlung zu zwei Morden, einem der jüngst (1974) an der Braut des Plantagenbesitzers Templeton begangen wurde, und einem zwanzig Jahre zurückliegenden, dem dessen erste Frau zum Opfer fiel. Nach dieser etwas altbackenen Exposition geht es erstaunlich in Breite und Tiefe. Ein Geschichtsepos (Handlungszeit 1940 bis 1994), ein Familien- und Liebesroman, ein erstaunlicher Krimi mit tiefem Einblick in die ethnisch-politisch-religiös vertrackten malaysischen Verhältnisse. Unser zweiter Roman aus Malaysia in 2022, der erste war Tash Aw: WIR DIE ÜBERLEBENDEN. Nicht versäumen!
Dass über die schandbare Einfädelung des Irakkriegs noch lange nicht alles gesagt ist, beweist Oliver Bottini mit EINMAL NOCH STERBEN. Fünf Jahre hat er an dieser vertrackten Geheimdienstintrige um „Curveball“ geschrieben, jenen lügnerischen Migranten, dessen Fakenews über Saddams Massenvernichtungswaffen die USA zur Rechtfertigung für ihren vorletzten Krieg benutzten (der letzte endete kläglich in Afghanistan). Bottini entwirft eine klassische Was-wäre-wenn-Gegengeschichte: Abeer, eine Irakerin, will in Bagdad Beweise vorlegen, dass Curveball ein Lügner ist. Und der treue BND-Agent Jaromin, der sie schützen soll, gerät zwischen alle Fronten, unter anderem zweien in seinem eigenen Amt. Ein großartiges Lehrstück deutschen Politikbetriebs hinter den Kulissen: Misstraut allen Mächtigen!
William McIlvanney aus Glasgow (1936 bis 2015) ist einer der großen Erneuerer des schottischen und damit des europäischen Kriminalromans. Sein LAIDLAW von 1977 setzte den versoffenen machistischen britischen Bullen einen Menschen entgegen, der auch noch belesen und ein Proletarier war, der erste Außenseiter im Polizeibetrieb, der wie ein privater Ermittler agierte, auf eigene Moral nach eigenem Gesetz und innerem Kompass.
100 Seiten Typoskript hat McIlvanneys Witwe aus dem Nachlass seinem Schüler Ian Rankin angedient mit der Aufgabe, daraus einen vierten Laidlaw-Roman zu machen. Rankin hat den Job bravourös gelöst. In DAS DUNKLE BLEIBT hat einen Mörder und einen Fall entwickelt, der zwar 1972 spielt, aber auch heute noch aktuell ist. Aber nach der Lektüre dieses intelligenten atmosphärisch starken Prequels ex post, in dem Laidlaw schon mal zeigt, was in ihm stecken wird, habe ich doch zum ersten LAIDLAW gegriffen. Wie frech, wie kühn damals und immer noch! Mein Tipp: Beide – oder alle – lesen!
Warum einen erfolgreichen Trick nicht noch mal ausprobieren? Liz Nugent, die in KLEINE GRAUSAMKEITEN eine toxische Familie unter der Fuchtel einer bösen Mutter vorführte, hat in jetzt mit AUF DER LAUER ihre Methoden konzentriert: Eine soziopathische Mutter, ein liebenswert-schwächlicher Sohn zwischen Übergewicht und Unterselbstvertrauen, eine Unterschicht-Familie, deren schwarzes Schaf gleich zu Beginn geopfert wird. Funktioniert, und das Böse siegt.
Die Krimibestenliste September ist seit Freitag, dem 2. September, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert. https://weltexpresso.de/index.php/buecher
Und bereits am Freitag morgen habe ich bei Deutschlandfunk Kultur STUNDE DER FLUT als höchsten Neueinstieg besprochen.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Sommertage!
Ihr Tobias Gohlis
Fachtagung zur Ästhetik des Kriminalromans
Wer Garry Disher oder Oliver Bottini oder wie sie alle heißen (auch mich), mal bei der Debatte über ihre Krimis und die Stellung des Kriminalromans in der Welt erleben und mitdiskutieren möchte, sollte sich die Tagung Zur Ästhetik des Kriminalromans nicht nur in den Kalender schreiben, sondern dorthin fahren.
Info: https://www.mordamhellweg.de/kalender/50209-zur-aesthetik-des-kriminalromans-2