Drei Titel sind neu: Zwei aus Großbritannien und einer aus Neuseeland. Die Schauplätze: London, York, Berlin, Budapest, Wien, Paris, Neuseeland, Kaikoura, Rakiura.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit drei Jahren und vier Monaten. Und über den kollaboratorischen Imperialismus aus dem Weißen Haus ebenso.

Neu auf Platz Eins im Juni:
1 Nacht über Soho (Shrines of Gaiety)
Irgendwie hat es noch niemand ausgesprochen, deshalb tue ich es hier: Kate Atkinson ist eine der Grandes Dames der britischen Kriminalliteratur. Wie zu den Zeiten von P.D.James und Ruth Rendell gibt es weitere: die Schottinnen Denise Mina und Val McDermid, die Engländerin Liza Cody. Atkinson wurde 1951 in York geboren und lebt heute in Edinburgh. Dort spielt unter anderem ihre Serie um Jackson Brodie. WEITER HIMMEL von 2019 sieht Brodie in Yorkshire; auch eine der Hauptfiguren in ihrem jüngsten Roman NACHT ÜBER SOHO, die Bibliothekarin Gwendolen Kelling stammt aus York.
Sie ist dank einer Erbschaft unabhängig, sucht nach zwei Mädchen, die in London Schauspielkarriere machen wollen, und geht bereitwillig auf Detective Chief Inspector Frobishers Vorschlag ein, als dessen Spionin das Nachtclub-Imperium von Nellie Coker zu unterwandern. Gwendolen hat im Weltkrieg als Krankenschwester gearbeitet, das hat ihren pragmatischen Realitätssinn geschärft. Wie damals – der Roman spielt 1926 – ganz London, ist sie Abenteuern nicht abgeneigt: die Schrecken des Krieges sollen überspielt werden.
Im Zentrum der Vergnügungen stehen die „Freudentempel“ (so könnte man versuchsweise den Originaltitel übersetzen) Nellie Cokers. Diese toughe Königin der Nacht ist einer realen Person, der Clubbesitzerin Kate Meyrick, nachempfunden, deren Memoiren Atkinson, wie sie im Nachwort schreibt, viele Details der Zeit verdankt.
Souverän, unerschrocken und mit dem nötigen Weitblick für Intrigen und Intriganten steuert Nellie ihr Imperium durch allerlei Anfeindungen. Ein schmieriger Malteser scheint ihr Club um Club entreißen zu wollen, der bisher gut bezahlte Polizist will gar alle Geschäfte übernehmen. Ihre Kinder sind auch nur bedingte Stützen und wollen eigene Wege gehen, unter ihnen der schwule Ramsey. Der möchte Schriftsteller werden und arbeitet an einem realistischen Roman über das Soho jener Tage.
Als er den damals gerade erschienenen Krimi THE MURDER OF ROGER ACKROYD (heute bekannt als ALIBI) von Agatha Christie liest, möchte er „etwas Realistischeres, Härteres“. Für mich ist das ein Schlüssel zum Verständnis von Atkinsons Roman. Christie praktiziert mit ihren Krimis, in denen der zurückliegende Krieg nicht mit einem Wort erwähnt wird, eine andere Art des Vergessens als die spiel- und drogensüchtige Londoner Gesellschaft jener Zeit: Geradezu manisch erfindet sie komplizierte Puzzles, in denen Mord und Tod eskapistisch zu Kicks im Gesellschaftsspiel werden.
Mit seinem Realismus ist NACHT ÜBER SOHO Atkinsons moderne Antwort auf Christie. ALIBI wurde durch den Trick berühmt, den Ich-Erzähler zum Mörder zu machen.
Dagegen stellt Atkinson frei von aller Trickserei eine verwundete und traumatisierte Gesellschaft vor, die Verwundungen, Verstümmelte und Tote vergessen will, aber nicht kann. Im düsteren Zentrum ihres Romans verschwinden junge Mädchen, naive Opfer der grassierenden Theatersucht, angeschwemmt werden ihre Leichen am Fuß einer Themsebrücke mit dem sprechenden Namen „Dead Man’s Hole“.
NACHT ÜBER SOHO erzählt plastisch, mit beeindruckend ausgearbeiteten Figuren, voll wunderbarer Details von 1926. Aber immer wieder kommt einen die Vermutung an, das verzweifelte Vergessenwollen der Roaring Twenties sei nur in seiner taumelnden Intensität von der überspielten Hilflosigkeit unserer Tage unterschieden.
Hier meine Besprechung auf Deutschlandfunk Kultur.
Außerdem neu auf der Krimibestenliste Juni:
7 Smiley (Karla’s Choice)
Man konnte gespannt sein: Wieder einmal wird der Versuch unternommen, aus einem berühmten, mit dem Tod des Verfassers abgeschlossenen Werk noch das letzte Quäntchen Money herauszupressen (wie zuletzt mit der ins Unendliche verlängerten Millenium-Serie Stieg Larssons, inklusive Aufmerksamkeit förderndem Erb- und Markenstreit). „Ein Roman aus John le Carrés Circus“ – so preist der deutsche Verlag Ullstein SMILEY an, „A John le Carré novel“ verspricht dreist der Originalverlag Viking Press.
Tatsächlich ist der Roman von Nick Harkaway geschrieben, dem vierten und jüngsten Sohn David Cornwells, besser bekannt unter seinem Autorennamen John le Carré, verstorben 2020. Im Vorwort erzählt Harkaway, dass er, geboren 1972, mit Smiley aufgewachsen ist und den Sound seines Vaters mit der Muttermilch aufgesogen hat. Nach Arbeit in der Filmindustrie veröffentlichte er 2008 sein erstes Buch, eine wilde Mischung aus Agentenroman und Dystopie, fand mit weiteren Büchern Anerkennung. Nick Harkaway ist ein Pseudonym, ebenso Aidan Truhen, unter dem er den fulminanten Thriller FUCK YOU VERY MUCH bei Suhrkamp veröffentlichte.
SMILEY spielt 1963, etwa 2 Jahre nach Der Spion, der aus der Kälte kam. George Smiley ist (zum ersten, aber nicht zum letzten Mal in seiner Geschichte) von der Geheimdienstarbeit zurückgetreten. Sein alter Chef Control bittet ihn, noch einmal, nur für ein paar Tage, dem merkwürdigen Verschwinden eines ungarischen Exilanten und Literaturagenten nachzugehen, der durch seine Flucht der Ermordung durch einen KGB-Agenten zuvorgekommen ist. Smiley, der schon einmal im Fall des Spions, der aus der Kälte kam – Alec Leamas – von Control manipuliert wurde, akzeptiert den Auftrag, weil er ihn nach „Smileys Art“ durchführen darf. Dass das eine dieser typisch doppeldeutigen Formulierungen ist, die le Carrés – und nun auch Harkaways – Geheimdienstwelt kennzeichnen, merken die Leser erst zum Schluss.
Die Suche nach dem verschwundenen Ungarn, der anscheinend auf eine lange konfliktreiche Karriere in den sowjetischen Geheimdiensten zurückblickt und über jede Menge alte Kontakte verfügt, erlaubt Harkaway, Smiley noch einmal in die Zeit seiner größten Niederlage zurück zu schicken, als er Leamas dem KGB opfern musste. In Berlin, wo Smiley erste Kontakte reaktiviert, schließt sich seinem kleinen Trupp auerwählter Agenten Susanna an, eine jüngere ungarische Exilantin, die mit ihrem unberechenbar moralischen Verhalten Smileys Pfade erheblich irritieren wird.
Der englische Titel verrät, es geht um Smileys Erzkontrahenten Karla. Ohne die verwickelte, spannende Handlung weiter zu vertiefen: Es spitzt sich alles auf die moralische Frage zu, ob es noch Grenzen des Anstands im Kampf der Geheimdienste gibt, ob sie eingehalten werden und wo sie liegen. Harkaway hat nicht nur perfekt und unaufdringlich den Sound seines Vaters inhaliert. An manchen Stellen, wo es um die praktischen Niederungen des Spionagegewerbes geht, um Fluchten, Exfiltrierung und Täuschung, fügt er sogar eigene Akzente aus seiner Erfahrung als Action-Schreiber hinzu. Weitere Spionagethriller aus Smileys „Circus“ (Code für den MI6) aus Harkaways Feder sind angekündigt. Der Start ist vollauf gelungen, man ist gespannt.
8 Auē
Auē ist in Te Reo, der Sprache der Māori ein Ausruf der Verwunderung oder Bedrängnis, zugleich das Verb für Weinen, Jammern, Stöhnen. Becky Manawatus Debütroman ist genau das: Ein Aufstöhnen, eine Wehklage über das Leid und die Gewalt, die zum kolonialen und postkolonialen Schicksal der neuseeländischen Ureinwohner gehören wie die Berge, das Meer und ihre Gesänge.
Entstanden ist Auē aus dem Entsetzen an dem Mord eines Kindes. 1994 wurde der 10jährige Glen Bo Duggan, ein Verwandter Manawatus, vom Lebenspartner seiner Mutter totgeschlagen. Neuseeland war entsetzt. Um den Schmerz über diesen Tod zu vertreiben, hat Manawatu mit Auē einen „taniwha“ (Geist) geschaffen, der, wie sie schreibt, „die Mauern um dieses Elend“ niederreißen soll, und ist dem toten Glen Bo Duggan gewidmet.
Auē erzählt die Geschichte der Brüder Ārama und Taukiri und ihrer Familien. Der achtjährige Ari, gestaltet nach dem Vorbild Glen Bo Duggans, wird nach dem Tod seiner Eltern bei seinem cholerischen und prügelnden Onkel und seiner liebevollen Tante abgegeben. Dort freundet er sich mit der gleichaltrigen Beth an, einer „Art Pippi Langstrumpf aus dem neuseeländischen Busch“ (Katrin Doerksen) und findet Freundschaft bei deren Familie. Sein älterer Bruder fühlt sich schuldig am Unfalltod seiner Eltern im Meer. Er versucht, Bruder, Familie und Tod vergessen zu machen, indem er auf die Nordinsel flieht und sich dort als Straßenmusiker durchschlägt.
Eingeschoben sind die Liebesgeschichten der Eltern, vor allem der Mutter Jade, die dem gewalttätigen Drogenmilieu ihres Vaters und Gangbosses entkommen will. Und noch eine Stimme ertönt in dieser Wehklage: die des Geistes einer Toten. Dieser Geist materialisiert sich sogar, als es zuletzt wieder um Leben und Tod geht.
Ein packender, wiewohl für uns Europäer nicht leicht verständlicher Roman. Zusätzlich Einblick in die unvertraute Gefühls- und Gedankenwelt der Māori gibt ihre Sprache. Die Übersetzung von Jana Grohnert ahmt deren neuseeländischen Sprachgebrauch nach, der Māori-Begriffe in den englischen Sprachfluss integriert. Ein Glossar erleichtert das Verständnis. Auē wurde u.a. mit dem am höchsten dotierten Preis Neuseelands für Fiktion und dem Preis für den besten Kriminalroman, benannt nach Ngaio Marsh, ausgezeichnet.
Wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE JUNI?
Die KRIMIBESTENLISTE JUNI ist seit Freitag, dem 6. Juni 2025, auf Deutschlandfunk Kultur online. Ein zweiseitiges PDF kann dort heruntergeladen werden. Ein einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen gibt es auf meinem Blog Recoil sowie das Archiv aller Krimibestenlisten seit 2005.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, rezensiert. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 6. Juni habe ich über die Nummer Eins der Krimibestenliste im Juni Nacht über Soho gesprochen.
Diese und kommende Rezensionen zu den Krimis der Bestenliste wie auch zu anderen Büchern sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Juni nebst hochinteressanten Rezensionen.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Bemerkenswertes aus der Kultur- und Krimiwelt
Das Crimemag und sein Redakteur Alf Mayer haben mich zu Geschichte und Details der Krimibestenliste in 20 Jahren befragt.
Vom 4. bis 6. Juli 2025 lädt das Frauen-Krimi-Netzwerk Herland nach Berlin zum HERland AllStars Festival ins silent green.
Ich wünsche Ihnen schöne Sommertage und gute Lektüre
Ihr Tobias Gohlis