Die Krimibestenliste im März entspricht eher nicht den gewohnten Erwartungen
Wenn im Zusammenhang mit Krimi von „Genre“ und mehr noch von dessen „Regeln“ die Rede ist, ist etwas Imaginiertes gemeint – die vermeintlich feststehenden oder überlieferten Gesetze bzw. deren „Übertretung“ – und etwas höchst Reales, das aber nur schwer zu fassen ist: der Erwartungshorizont der Leser.
Dieser Erwartungshorizont differiert natürlich je nach Alter, Herkunft, Geschlecht – und trotzdem meint jede Frau und jeder Mann einen Begriff davon zu haben, was ein Krimi sei.
Manche Schlauberger, vorzugsweise Marketingagenten, wissen auch mehr über die feinen Unterschiede. Ich sage nur: Zielgruppenansprache.
Als 2005 die Jury der Krimibestenliste zusammenkam, einigte sie sich auf die Formel, dass man zwar definitorisch den Detektivroman von anderen Erzählformen des Kriminellen unterscheiden kann (Richard Alewyn), dass dies aber nur ein Vektor ist, der den Horizont in alle anderen Richtungen offen lässt. „Vorgeschlagen werden kann, was ein Jurymitglied für ‚Krimi‘ hält – wichtiger als Gattungstreue ist, dass das Buch gut ist – und was gut ist, klärt die Abstimmungsstatistik.“ Das heißt: Krimi ist, was auf der Krimibestenliste steht.
Dass das kein trennscharfes Kriterium ist, jeder literaturwissenschaflichen Analytik eine offene Flanke bietet und anstelle der umlaufenden Erwartungshaltungen (siehe oben) eher die der mit Krimivariationen geschmacklich verwöhnten Jurymitglieder zum Entscheidungsmaßstab nimmt, macht den Reiz der Krimibestenliste aus. Mainstreamprodukte – Ihre Zuschriften der letzten Wochen, liebe Leserinnen und Leser, liebe Fans, bestätigen es – kommen auf der Krimibestenliste eher selten vor (nur dann, wenn sie gut gemacht sind), Ausflüge über den kommunen Erwartungshorizont hinaus sind häufig der Fall.
Ausgesucht in der Hoffnung, dass auch Sie im einen oder anderen oder sogar der Mehrheit der Fälle gemeinsam mit den Jurymitgliedern in den favorisierten Büchern begeistert eine (eventuell sogar eine innovative) Variante des Erzählens über das Kriminelle erkennen.
Sinn dieser zugegeben etwas hochtrabenden Vorrede ist die Einstimmung auf eine Krimibestenliste März mit sechs neuen Titeln, von denen fünf heftigst mit den Leseerfahrungen und Erwartungshorizonten von „Krimi“ kollidieren könnten, jeder Titel auf seine Weise:
Merle Krögers DIE EXPERTEN ist ein hochaktueller historischer Spannnungsroman, in dem die Leserinnen und Leser die verstreuten Spuren des Kriminellen selbst identifizieren und bewerten müssen. Hierzu ein Interview mit der Autorin und ein Essay ihres Herausgebers.
Stephen Greenalls WINTER TRAFFIC ist der ambitionierte Versuch, Zeit, Krimihandlung und -ambiente auf einen epischen Augenblick zu komprimieren, eine Wort- und Assoziationsmaschine im höchsten Schleudergang. Diesen Versuch fand die Mehrheit der Jury gelungen.
Patrícia Melo verwebt in GESTAPELTE FRAUEN Geistreise, Trauma- (Selbst-) Therapie, kannibalische Rachephantasie und vehemente, archaische Anklage gegen massenhaften Femizid.
Ottessa Moshfeghs DER TOD IN IHREN HÄNDEN ist mitreißendes Erzählen über die zerstörerische, aber auch heilende Wirksamkeit des erfundenen Mordes.
Orkun Erteners WAS BISHER GESCHAH (UND NIEMALS GESCHEHEN DARF) kommt mir persönlich vor wie eine literarische Einhandumsegelung des Globus. Auf der Route (schnellstmöglich mit aller Kunstfertigkeit ans Ziel) begegnen Gedächtnisverlust, Terrorangst, Identitätshorror, am Ende winkt Erwachsenwerden.
Auch der Rest auf der Krimibestenliste ist nicht gerade von Pappe oder Pappmaché. Wie gewohnt finden Sie sie seit dem 5. März, dem ersten Freitag im Monat, auf Deutschlandfunk Kultur und können sie hier als PDF downloaden. Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im crimemag
Ich wünsche viel Vergnügen!
Ihr Tobias Gohlis