Jerome Charyn: Montezumas Mann – zuletzt wird Sidel Bürgermeister
Auf der letzten leeren Seite von Jerome Charyns Montezumas Mann habe ich vor einigen Wochen mit Bleistift ein gleichschenkliges Dreieck eingezeichnet. An der Spitze des Dreiecks steht „Sidel“, die beiden anderen Ecken sind von „Sal“ und „Margaret“ besetzt. Jetzt, beim Schreiben dieser Kolumne und beim Wiederlesen dieses irrsinnigsten aller irrsinnigen Bücher, merke ich, wie vergeblich meine Gedächtnisstütze war. Pieke Biermann schreibt, dieser Roman sei mit „halluzinatorischer Chuzpe“ geschrieben, und ich kann der Berliner Krimiautorin nur zustimmen. Irgend so etwas muss es gewesen sein, das Charyn die Feder geführt hat. Selbst Pythagoras hätte bei dem Versuch, auch nur die Dreieckskonstellationen dieses Buches zu erfassen, den Überblick verloren.
Surreale Familienaufstellung
Am liebsten, verehrte Leserin, verehrter Leser, würde ich mich mit Ihnen in Schiller’s Tischtennisclub an der Columbus Avenue einigeln. Dort könnten wir ein paar Nächte durchschwadronieren und vielleicht würden wir irgendwann verstanden haben, wie die surrealen Familienaufstellungen der Sidel-Romane funktionieren. Montezumas Mann ist der sechste Roman der Serie, Charyn schreibt an Nummer elf.
Die eingeschworenen Sidel-Fans kennen Schiller’s schon aus Blue Eyes. Damals saß da der blauäugige Manfred Coen, Sidels toter Liebling, und jetzt sitzt und spielt dort Joe Barbarossa, halb Bigamist (mehr weiß er nicht über seinen Vater), halb Nez Percé. Das ist ein Indianerstamm, der „nie Gefangene misshandelte, noch die eigenen Leute im Stich ließ.“ Joe ist ein Dealer, ein Mörder und der höchstdekorierte Detective New Yorks. Wenn er mit dem Taxi zu seiner Schwester Roz ins Heim rast, weil sie wieder einen Anfall von Selbstmordstimmung hat, muss er selber ans Steuer. Denn eine schlichte face-to-face-Konfrontation mit dem „Mörderbullen“ Joe macht Normal-Chauffeure vor Angst fahruntüchtig. Dabei will Joey eigentlich nur Sidel und seiner Schwester dienen, treu wie ein Nez Percé. Roz – Sidel – Joe: das ist noch so ein Dreieck, ein anderes: Joe – Sidel – Margaret.
Sidel zieht die Maske über
Diese und alle anderen Konstellationen drehen sich um Isaac Sidel wie ein Mobile von Calder. Isaac selbst kennt nur zwei fixe Größen: seine Tochter Marilyn und die ewige Verlobte Margaret. Und Sidel, der Polizeichef von New York, hat auch nur ein Ziel: sein von ihm finanziertes, persönliches Baseballteam an die Spitze der Police Athletic League zu bringen. Leider hat er nie genug Geld für seine Jungs, im Gegensatz zu seinem Sponsorenkonkurrenten, dem irischen Kardinal-Erzbischof Jim. Also ziehen er und sein treuer Barbarossa zwei, drei Mal die Woche ihre Strumpfmasken über und überfallen die Kokserhöhlen von Gangsterboss Jerry DiAngelis.
Kein Mensch stößt sich daran, denn jeder weiß, dass der jüdische Comissioner Isaac Sidel mit Indianerleibwächter, Katholischem Kardinal, Rasta-Anwalt, Gedächtnisschwund und einem Bandwurm im Bauch ein einsamer, sehnsüchtiger Wahnsinniger ist. Außerdem sind alle anderen Figuren dieses rasend rotierenden Melting Pot von Roman auch Besessene, nur nicht so wilde wie Sidel. Weshalb er, der den Mafiabossen jahrelang als Montezumas Mann unwillentlich den Affen gespielt hat, am Ende sogar zum neuen Bürgermeister von New York gemacht wird.
Charyns Sidelromane sind Amalgam der Welt
Denn Sidel ist zwar ein Mörder, ein Dieb und der Polizeichef, aber er ist auch ein guter Mensch. Er hält fest an der Liebe zu seiner Tochter Marilyn, auch wenn sie Ehemänner schneller verschleißt als er Donuts; noch fester hält er an Margaret, einem Weibsstück von Pynchon-Format: aus Odessa vor den Nazis geflohen, jetzt Agentin des dubiosen LeComte aus dem Justizministerium, als solche Beischläferin von Sal Rubino, dem Baugewerkschaftsmafioso, seit Jahrzehnten unerreichbar für den alten Isaac. Strumpfmaske hin, Baseball her – Sidel betreibt sein Leben als persönlichen Kreuzzug. Und am Ende – da war er in Palermo, Schiller’s wurde verwüstet und das Geheimnis der importierten sizilianischen Puppen gelöst – setzt Margaret die Perücke ab und gibt dem alten Knaben einen Kuss.
Das ist nicht einmal ein Zehntel der Plots. Tief Luft geholt: Charyns Sidel-Romane sind ein Krimiamalgam der Welt selbst, in dem Ed McBain und James Ellroy, E.A. Poe und die Propheten aufgehoben sind. Charyn lesen ist Rausch.
Jerome Charyn: Montezumas Mann
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Rotbuch, 2001, 294 Seiten
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 45/01