Sieben Titel sind neu: Drei aus den Vereinigten Staaten, drei aus Großbritannien und einer aus der Schweiz. Die Schauplätze: Irgendwo in den USA, Lawrence, Chicago, Oxford, London, „Nestor“, New York State, Montana, Oregon, Panama, Birmingham, Schottland, Norwegen, Island, Zürich, Austin, Texas, „Christliche Staaten von Amerika“, Alpen.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit drei Jahren und sechs Monaten. Und über den kollaboratorischen Imperialismus aus dem Weißen Haus ebenso.

„Aus dem Englischen“ übersetzt sind sechs der sieben Neuen – diesmal Halbe-Halbe USA und Great Britain. Nur ein algerischer Schweizer sorgt für die – sonst übliche – internationale Streuung.
Platz Eins im August:
1 Die Verpflichtung (Just Thieves)
Dem Magazin shotsmag bekennt Greg Galloway: „Just take what you need. I didn’t care if I got caught, in fact, I wanted to get caught. I confess, I’m a thief. Of course I am; I’m a writer.”
DIE VERPFLICHTUNG ist die Geschichte zweier Diebe, eine Taschen-Philosophie des Diebstahls, eine Liebesgeschichte zweier ungleicher Typen und die Geschichte einer Rache. Alles verwickelt, denn die Erinnerung, vor allem an emotional Aufwühlendes, folgt keinem linearen Weg. Das annonciert schon der erste Satz: „Wir hatten keine Ahnung, wie es dazu gekommen war, aber als wir aufwachten, lag vor dem Hotel ein totes Pferd auf der Straße.“ Irrtum: später wird es verschwunden sein.
Ein surrealistischer Kriminalroman? Ein wenig schon, denn die beiden Diebe Frank und Rick klauen auf Zuruf, oft Gegenstände, deren Wert nur im Auge des Besitzers liegt. So auch in DIE VERPFLICHTUNG. Frank weiß, dass die die „Dinge, die keinen Wert haben“ die wertvollsten sind. Und so ist der Gimmick, der die Handlung wie aus einem Film von Hitchcock durchzieht, eine Sport-Trophäe, die nur einer Person etwas bedeutet. Ein intellektueller und krimineller Spaß!
Wie oft, hat Hanspeter Eggenberger eine sehr schöne Rezension verfasst.
Kolja Mensing hat DIE VERPFLICHTUNG hier rezensiert.
Weiterhin neu auf der Krimibestenliste August:
3 Wunder Punkt (Pay Dirt)
Es ist kaum zu glauben: Seit Sara Paretsky 1982 mit Indemnity Only (1986 als Schadenersatz bei Piper) ihre Detektivin Victoria Iphigenia Warshawski, genannt Vic oder V.I., in die literarische Welt setzte, sind dreiundvierzig Jahre ins Land gegangen. WUNDER PUNKT, 2024 in denUSA erschienen, ist ihr 22. Roman.
Vic ist traumatisiert. Im heimatlichen Chicago musste sie miterleben, wie ein Vater seine Tochter und sich selbst erschoss, weil er nicht ertragen konnte, dass sie sich zu ihrem wahren Geschlecht als Transfrau bekannte. Ihr Partner, Professor der Ermordeten, dämpft seinen Kummer irgendwo im Mittelmeerraum bei Ausgrabungen. So ist sie ganz allein in Lawrence, Kansas, als ihre Patentochter sie bittet, eine verschwundene Kommilitonin zu suchen. Der Hinweis auf ein Drogenhaus lässt Vic erst die Gesuchte -lebend, aber von Drogen gezeichnet – und kurz darauf die Leiche einer brutalst erschlagenen Frau finden.
Missgünstige, faule Polizisten und Staatsanwälte, hinter denen einflussreiche Leute stehen, beschuldigen Vic des Mordes, also muss sie selbst die wahren Täter und ihre Motive ermitteln. Angeschlagen, voller Zweifel an ihrer Kernkompetenz als Ermittlerin, deckt sie, unterstützt nur von ganz wenigen alten und neuen Freunden – darunter eine ehrgeizige junge Lokaljournalistin, unterm Druck des Zeitungssterbens – mit ihrem letztlich doch untrüglichen Instinkt für finstere Zusammenhänge nach und nach einen über Jahrhunderte und Generationen vertuschten Immobiliendiebstahl auf.
Das Glossar im Anhang, wie immer von Else Laudan, Paretskys deutscher Stimme und Verlegerin seit fast zehn Jahren, zusammengestellt, lässt die Besonderheiten von Kansas deutlch werden. Dieser Staat – und seine Bewohner bis heute – spielte eine ganz besondere Rolle in der ambivalenten Geschichte der USA: Sklavenbefreiung und Staatsgründung fielen zusammen. Eindrucksvoll hat Paretsky diese Dramen in der Figur der Ermordeten verdichtet: Sie war eine Hobbyhistorikerin, die aus Geltungsdrang sich mal als Schwarz, mal als weiß präsentierte, immer auf der Seite der Aufrechten. Diese arme Frau war in der ganzen Schaumschlägerei auf ein wichtiges historisches Dokument jenes Diebstahls gestoßen, zum Missfallen der Milliardäre, die das Grundstück behalten wollten.
22 Romane und kein bisschen leise! Natürlich geht einem die eine oder andere Marotte von Vic und ihrer Autorin auf die Nerven, aber ihre Selbstironie, die analytische Schärfe der Gesellschaftsdarstellung und ihre unerschrockene Bissigkeit machen die Lektüre zu einem Vergnügen.
5 Ein Mord im November (A Killing in November)
Simon Mason (1962 in Sheffield geboren, lebt heute in Oxford) ist im deutschsprachigen Raum hauptsächlich durch seine Jugendbücher um die Quigleyfamilie bekannt. Jetzt, mit der Serie um die Detectve Inspectors gleichen Namens DI Wilkins, kann sich das ändern.
DI Ryan Wilkins, der Proll, ist die interessantere Figur. Während er aufgrund seiner mehr oder minder farbigen Trainingsanzüge wahlweise als Junkie, Arbeitsloser oder Kleinverbrecher angesehen wird, bingt er die adels- und kastenfixierte Society von Barnabas Hall und Oxford schwer durcheinander. Er kennt niemanden Wichtigen, hat nichts gelesen, deckt aber mit seinem unverfrorenen Mundwerk jede Heuchelei auf.
DI Ray Wilkins, sein Schwarzes Gegenüber, ist gebildet, snobby, aufstiegsorientiert und im Klassen-Denken der höheren Polizeikreise geschult.
Der Fall ist geschickt konstruiert, eine Kombination von Campusroman, Whodunnit und Gesellschaftssatire (mit Seitenblick auf die Lage der trinkenden, aber herzlichen unteren Klassen). Um EIN MORD IM NOVEMBER ist ein gewisses mediales Buhei entstanden, ein zweiter Band soll noch in diesem Jahr erscheinen. Der erste ist witzig, satirisch, schielt aber auch deutlich auf TV-Vermarktung. Bin gespannt auf den zweiten, wohin er ausschlägt.
Ein Bild gibt wiederum Hanspeter Eggenberger, der das Satirische hervorhebt.
6 Die feindliche Zeugin (The Witness)
Wäre Alexandra Wilson keine Schwarze Barrister – das sind die Anwälte, die vor Gericht plädieren, Details erfährt man im Roman – und würde die Klassen- und Rassenverhältnisse in His Majestys Großbritannien nicht so genau schildern, hätte dieses Courtroom-Drama vermutlich keinen Platz in Thomas Wörtches Suhrkamp-Edition gefunden.
Die Zwangslage des jungen Angeklagten (Schwarz, arm, erzogen von seiner Großmutter), der seine Kumpel nicht verraten kann und dafür Lebenslang riskiert, fesselt: Warum, zum Teufel, verschweigt er partout, dass er dem Niedergestochenen zur Hilfe gekommen ist? Sein Vorname Emmett, der an Emmet Till erinnert, signalisiert: unschuldiges Opfer einer rassistischen Gesellschaft. Auch die beiden anderen Schwarzen sind harten Zwängen ausgesetzt: Die Schwarze Junganwältin Rosa (verschuldet, gehetzt, mit sterbender Großmutter, Mutter im Knast, verantwortlich für einen kleinen Bruder) schwitzt unter der (eingebildeten) Geringschätzung ihrer Kollegen und dem Druck ihres ersten großen Mordprozesses. Und die dritte Schwarze (aus Kamerun, Putzfrau ohne Aufenthaltserlaubnis) fürchtet Polizei und Abschiebung, wenn sie zugunsten des Angeklagten aussagt.
Aber: wir wissen, dass seit den Abenteuern Perry Masons noch nie ein Anwalt oder eine Anwältin ein Courtroom-Drama verloren hat. Oder wie Rosas Grandma in sagt: „Gib nie jemand nich auf.“
Hierzu Sylvia Staude recht freundlich.
8 Hard Girls
J. Robert Lennon ist 1970 in Pennsylvania geboren, ist Musiker und unterrichtet in Ithaka NY an der Cornell University Creative Writing. Der fiktive Ort „Nestor“ mitsamt seiner Uni, an der Jane Pool als Institutssekretärin und ihr Vater Harry als Professor arbeiten, in HARD GIRLS dürfte wohl nur eine kleine literarische Anspielungspielebene davon entfernt sein.
HARD GIRLS fängt zackig an. Im ersten Satz erfahren wir, dass Jane elf Jahre zuvor aus dem Gefängnis entlassen wurde, und es dauert nicht lange, bis sie eine Mail entschlüsselt, in der sich ihre Zwillingsschwester Lila zum ersten Mal nach zehn Jahren meldet. Daraus geht hervor, dass Jane sich schleunigst unter Wahrung von allerhand Sicherheitsmaßnahmen auf die Socken machen soll. Denn Lila ist überzeugt, endlich eine Spur von ihrer ebenfalls seit Jahren verschwundenen Mutter Anabel gefunden zu haben.
Mit Janes Abreise beginnt ein wildes Road Movie, das die beiden toughen Schwestern (Lila betreibt seit Jahren einen Sicherheitsdienst und Jane ist auch nicht ohne) auf den Spuren ihrer Mutter zu Drogendealern und Ex-Agenten in den Norden der USA und nach Panama führt. Anabel, mehrsprachig und promiskuitiv, erfahren wir in den Rückblenden zwischen Bergtouren, Fourwheel-trips und irren Flügen, war wohl CIA-Agentin und hat die schlimmsten US-Aktionen der 80er und 90er Jahre mitgemacht.
Soweit die Inhaltsangabe. Und jetzt die Empfehlung: ein wilder, abenteuerlicher Kracher, der jede Menge Überraschungen bereithält. Großer Spaß! Sein Nachfolger BUZZ KILL ist auf Englisch schon erschienen.
9 Deckname Bird (A Bird in Winter)
Geht es in HARD GIRLS um die Suche nach einer Agentin, die verborgen bleiben will, dreht sich Deckname Bird um das Verschwinden einer Agentin. Auch die Autoren haben Ähnlichkeiten: Louise Doughty ist ebenfalls eine angesehene Autorin, (* 1963 in Leicestershire), auch sie startet (nach TV-serien und Psychothrillern) bei Suhrkamp neu auf dem deutschen Markt.
Heather Berriman war beim Women’s Royal Army Corps, als die “Mädels noch nicht bei den Jungs mitmischen“ durften und in (unter anderem) in Floristik ausgebildet wurden. Das war keine zufriedenstellende Verwendung für ihren großen Patriotismus. Sie meldete sich zum Secret Service, allerdings nach einem üblen sexuellen Überfall auf ihre Freundin Flavia. Ehrgeizig ergreift sie die Gelegenheit, als ihr die Versetzung in eine besonders geheime Antikorruptionseinheit angeboten wird. Von dort flüchtet sie aber ganz schnell, als sie während einer Sitzung bemerkt, dass sie selbst unter Verdacht geraten ist.
Ihre Ich-Erzählung verläuft von da an zweigleisig. Heather, genannt Bird, flieht vor Geheimdienstschergen nach Schottland, Norwegen und Island und erlebt spannende und gefährliche Abenteuer. In den Besinnungs- und Erschöpfungspausen rekapituliert sie ihre Karriere und vor allem die komplizierte Beziehung zu Flavia und ihrer Tochter. Und denkt darüber nach, ob nicht ihr ganzes bisheriges Leben sinnlos war. So wie Louise Doughty hat bisher noch niemand Spionage und Sinnsuche zusammengebracht: im Nachdenken über weibliche Emanzipation und verräterische Geheimdienste.
Ob Bird, immerhin die Ich-Erzählerin, aus dem ganzen Schlamassel lebend oder doch nur mit Blessuren rauskommt, hält beide Stränge spannend zusammen.
10 Asimovs Kindergarten
Geschätzt seit dem Jahr 2000 nehmen dystopische Romane, in denen Künstliche Intelligenzen (vulgo KIs) in irgendeiner Form die Macht übernehmen, stark zu. Die KI spielt zunehmend die Monsterrolle, die bisher den Zombies und anderen Halbtoten zukam. Das ist meistens nur für eingefleischte Sci-Fi-Fans interessant, doch hin und wieder schwappt das KI-Thema auch ins Krimi-Genre, sehr intelligent und auf aktuellstem technologischem Stand Tom Hillenbrand mit seiner HOLOGRAMMATICA-Trilogie (siehe THANATOPIA)
Mit Hillenbrand gemein hat der Zürcher Reda el Arbi (*1969 als Sohn eines algerischen Globetrotters und einer Schweizerin) die Idee, dass KIs die Menschheit vor sich selbst und dem Aussterben in der Klimakatastrophe retten sollen. Deshalb werden bei el Arbi große Teile der Welt im Jahr 2082, die geopolitisch entfernt der heutigen ähnelt, von Regierungs-KIs (EuroGov, PakIndGov etc.) gemanagt. Und wie bei Hillenbrand die Weltregierung haben es diese supervernünftigen superverantwortungsbewussten KIs mit einem Ausreißer zu tun. In ASIMOVS KINDERGERARTEN ist es eine sich ihrer selbst bewusste, anarchistisch handelnde Rebellen-KI namens KayN, die die schöne Ordnung der KI-Govs bedroht.
Um ihrer habhaft zu werden, soll ein Ermittlerinnen-Team aus Zürich (bekannt aus dem Vorläufer EMPFINDUNGSFÄHIG) einen Computer-Nerd aufspüren, der einen Abschnitt von KayNs Code zu besitzen scheint. Das clandestine Eindringen von Lea Walker, Kanzleichefin mit elektronischer Armprothese, der Vollandroidin Cali und Leas Geliebter Melissa (Samurai der höchsten Stufe) in die fundamentalistischen, rassistischen und vor allem KI-feindlichen „Christlichen Staaten von Amerika“ beginnt mit einem Blutbad in einer Südstaatenkneipe, wächst sich zu einer Art Bürgerkrieg aus und steigert sich in der Schlussphase zu einer Verfolgungsjagd, in der die eh wie antike Götter agierenden KIs ihre Agentinnen unter atomaren Beschuss nehmen.
So weit, so splatterhaft. ASIMOVS KINDERGERARTEN ist manchmal etwas weitchweifig und etwas schlicht geschrieben. Was die Lektüre trotzdem zum großen Vergnügen macht, ist el Arbis Lust an der ausgefeilten Groteske, sein Spaß an gekonnter Action (die auch vor Heldenopfern nicht zurückschreckt), seine Fabulierlust und nicht zuletzt ein Stück durchdachter und gut durchgespielter KI-Philosophie, die uns über die Monstervorstellungen ganz neu nachdenken lässt.
Wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE AUGUST?
Die KRIMIBESTENLISTE JUNI ist seit Freitag, dem 6. Juni 2025, auf Deutschlandfunk Kultur online. Ein zweiseitiges PDF kann dort heruntergeladen werden. Ein einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen gibt es auf meinem Blog Recoil sowie das Archiv aller Krimibestenlisten seit 2005.
Einige Neuigkeiten auf der Krimibestenliste August hat Kolja Mensing am Freitag, den 1.8., hier besprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, rezensiert. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 1.8., hat Kolja Mensing auch über die Nummer Eins der Krimibestenliste August DIE VERPFLICHTUNG gesprochen. Diese und kommende Rezensionen zu den Krimis der Bestenliste wie auch zu anderen Büchern sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste August nebst hochinteressanten Rezensionen.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Bemerkenswertes aus der Kultur- und Krimiwelt
Wir trauern um Doris Gercke. Die Erfinderin von Bella Block, große feministische und sozialkritische Kriminalschriftstellerin, ist mit 88 Jahren am 25. Juli 2025 verstorben.
Ebenfalls verstorben ist Ingvar Ambjörnsen. Am 19. Juli ist er mit 69 Jahren in seiner Heimat Norwegen an einer langen, schweren Krankheit gestorben. In Norwegen zählt der Wahlhamburger zu den ganz großen Gegenwartsautoren. Hier der Nachruf seines Verlages Edition Nautilus.