Patricia Highsmith‘ Tage- und Notizbücher waren neben Kurzgeschichten und Romanen ihr dritter Werkkomplex. Sie zeigen die lebenslustige, wilde Seite der Autorin, auch ihre unglückliche, lyrische und aphoristische – und tapfer ertragenes Außenseitertum.
Patricia Highsmith – als Autorin weltberühmt, als Person ein Rätsel, trotz zweier dicker Biografien.
Sie erfindet die Mordververschwörung über Kreuz. Ihr Tom Ripley ist eine der mythischen Figuren des 20. Jahrhunderts. Ohne ihr Werk ist der Psychological Turn vom Whodunit zum Whydunit in der Kriminalliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts nicht denkbar. Bewundert von Graham Greene, verehrt von Peter Handke, bereits ihr Debüt verfilmt von Alfred Hitchcock. Für Colson Whitehead ein Vorbild. Kam besser mit Katzen und Schnecken aus als mit Menschen.
Das Erste, was man dem Besucher des Schweizer Literaturarchivs aus ihrem Nachlass zeigt, sind zwei Schwerter der Konföderierten und eine Pistole. Sie hingen in allen Häusern, in denen Highsmith gelebt hat, an der Wand. Das Zweite ist ihre abgenutzte Schreibmaschine, voller Etiketten aus aller Welt. Das Dritte sind die massiven Archivkartons mit ihren Tage- und Notizbüchern. 8000 Seiten mit der Hand geschrieben, gezeichnet, geklebt.
Gefunden wurden sie 1995 nach ihrem Tod in ihrem Haus in Tegna im Tessin versteckt im Wäscheschrank. Jetzt erscheinen sie, weltweit in sieben Verlagen gleichzeitig. Knapp 1400 Seiten davon hat Highsmith‘ langjährige Lektorin Anna von Planta ausgewählt und kenntnisreich kommentiert.
Tagebücher auf Französisch, Italienisch und Deutsch
Näher dran an Pat waren wir nie. Die Autorin, die keine Fragen zu ihrer Person gestattete, die keinem Journalisten die Hand gab, hat im Geheimen neben Kurzgeschichten und Romanen mit den TAGE- UND NOTIZBÜCHERN ein bisher weitgehend unbekanntes drittes Werk verfasst, das sie von früh an als Bestandteil ihres Oeuvres pflegte. „Achtung, liebe Nachwelt! Dieses Tagebuch sollte parallel zu meinen Notizbüchern gelesen werden, damit man nicht den Eindruck hat, ich würde nur von Weltlichem schreiben!“ hielt sie 1945 fest, da hatte sie bis auf ein paar Stories in Studentenzeitschriften noch nichts veröffentlicht.
„here is my diary, containing the body“ – das Motto, das sie ihnen vorangestellt hat, enthält den Kern dieser Tagebücher. Ihr Körper, das Gefäß ihres Verstandes, das Körperliche, die Liebschaften – davon nimmt das Schreiben der Egozentrikerin seinen Ausgang bis zu ihrem Tod 1995.
Die doppelt Hochbegabte (Lesen konnte sie mit drei, die talentierte Zeichnerin liebäugelte lange mit einer Karriere als Malerin) führte von 1 bis 38 durchnummerierte Notizbücher, die eher Reflexionen, Skizzen, Ideen und Vorstudien zu literarischen Projekten enthielten. Parallel dazu dienten die 18 Tagebücher dem Festhalten der Tagesereignisse, der Emotionen und Begegnungen, der Selbstreflexion eines ebenso ambitionierten wie selbstzweiflerischen Geistes.
Ihre intimen Notate setzen 1941 ein, als Highsmith zwanzig war, im dritten Jahr auf dem Frauen vorbehaltenen Barnard College der Columbia University. Bereits die ersten Einträge der Studentin intonieren die Lebensthemen: „Stück über eine Frau, in der ich den Mann spielte.“ „Warum muss ich immer beiseitetreten und mich und andere beobachten. Ich werde niemals Teil des Lebens sein.“ Homosexualität, Geschlechtsidentät, Außenseitertum.
Highsmith verfasste ihre anfangs beinahe täglichen Einträge meist tief in der Nacht, wenn sie von Parties, aus Bars oder von Übernachtungen bei Freundinnen zurückgekehrt war, zunächst in der Zweizimmerwohnung der Eltern. Sie schrieb sie in Englisch, Deutsch, Französisch. Als sie ab 1943 einen Brotjob als Texterin von Comics und eine eigene Wohnung besitzt, geht sie morgens damenhaft mit Rock oder Kostüm gekleidet ins Büro, badet nach Feierabend gründlich und wirft sich für den eigentlichen Job, das Kurzgeschichtenschreiben, in Schale. Danach auf die Piste.
wilde Jahre
Beinahe die Hälfte aller Aufzeichungen umfassen die wilden Jahre der Highsmith in New York, von 1941 bis 1950, das Jahrzehnt, in dem sie ihren Durchbruch schaffte. Der Leser, die Leserin werden mitgerissen in einen Wirbel aus studentischen Sorgen („in Logik eine Vier“) und Eifersüchteleien um den Redakteursposten im Barnard Quarterly, in dem Pats erste Stories erschienen. Lektürelisten (Lenin, Joyce, Shakespeare, Dostojewski) wechseln ab mit neunmalklugen Bemerkungen („Das Buch des Dekans von Canterbury wird sehr einflussreich sein.“) und einer wachsenden Zahl von Haken hinter Dates, meist, aber nicht nur mit Mädchen.
Highsmith sah damals wahnsinnig gut aus, eine dunkelhaarige Southern belle, bekannte Fotografen machten Aktfotos von ihr, die Tage schienen nicht lang genug, um all die neuen Bekanntschaften (darunter jede Menge Promis: Peggy Guggenheim, Truman Capote, Gore Vidal) zu machen und über sie zu schreiben.
Was für ein Gegensatz zu den überlieferten Bildern der alten, an Lungenkrebs erkrankten Schriftstellerin: vorgebeugt, mit einem tief gegerbten, von Alkohol und Kettenrauchen gezeichnetem Gesicht, „sah sie skeptisch hinter einem Vorhang von Haaren hervor“, wie sich Anna von Planta erinnert.
Neben all dem Party- und Liebesgeflüster, neben den Listen von Eroberungen und Niederlagen, dem hochfahrenden Gerede einer begabten Studentin finden sich von Beginn Einträge, die auf eine große Bestimmung verweisen: „21. 6. 1941 Um aufrichtig zu sein, um unserem inneren Selbst, das wie kein anderes auf Erden ist, treu zu sein, müssen wir bereit sein, etwas zu riskieren und manchmal auch zu leiden. Aber wenn wir das nicht tun, können wir nicht mit Recht sagen, wir hätten gelebt.“ Dabei geht es auf und ab: „26. Juni 1941 Sehr ernst & deprimiert, habe das Gefühl, nichts, was ich tue, ist wichtig oder wird es jemals sein.“
An diesen beiden kurz nacheinander verfassten Einträgen wird das Editionsverfahren der TAGE- UND NOTIZBÜCHER klar. Um den inneren Zusammenhang der Entstehung zu wahren, stehen die Einträge chronologisch hintereinander, nur die Form der Datumsangabe unterscheidet Tage- von Notizbuch. Im „Diary“ schrieb Highsmith den Monat aus: „Juni“, während in den „Cahiers“ das numerische Format galt: „21.6.1941“. Außerdem waren die Tagebücher – oft über mehrere Seiten hinweg – auf Französisch, Italienisch oder in ihrer Lieblingssprache Deutsch verfasst. Highsmith, die ihr Leben lang Wörterbücher las, hatte sich schon als Jugendliche Deutsch beigebracht, die Sprache ihres leiblichen Vaters Bernard Plangman, von dem sich ihre Mutter getrennt hatte, als Pat drei war. Sie sprach es fast fehlerfrei und schrieb es oft mit einer englischen Wortstellung. In der Edition sind die ursprünglich fremdsprachigen Passagen kenntlich gemacht, aber in geläufiges Deutsch gebracht – im Anhang finden sich einige Originalbeispiele für Pats Sprachakrobatik.
nach allen platonischen Gesetzen ein Mann
Patricia Highsmith hat sich niemals öffentlich als Lesbierin geoutet, selbst dann nicht, als sie 1990 mit der Neuherausgabe ihres zweiten Romans SALZ UND SEIN PREIS ihr Pseudonym „Claire Morgan“ lüftete, unter dem er 1952 herausgekommen war. Darin geht es um die Liebe zwischen einer verheirateten Mittdreißigerin aus betuchten Verhältnissen und einer zwanzigjährigen Verkäuferin. Trotz der Drohung des Ehemannes, der Mutter wegen ihrer moralischen „Verderbtheit“ das geliebte Kind wegnehmen zu lassen, stehen die beiden Frauen zu ihrer Liebe, die „absolut und vollkommen sein kann, wie sie es zwischen Mann und Frau niemals sein kann“. Auch weil es der erste Roman war, in dem homosexuelle Liebe nicht tragisch, wie es die Konvention verlangte, sondern gut endete, wurde er zum Kultbuch mit Millionenauflage.
Patricia Highsmith riskierte durchaus etwas, um ihrem „inneren Selbst treu“ zu sein. Geradezu provokant kleidete sie sich männlich in Hosen, mit großen Gürtelschnallen und Herrenmantel – Signale, die von der Sitten bewachenden Polizei geahndet wurden. Ihre langjährige Partnerin Maryjane Meaker zitterte vor Angst, wenn Pat sie in Manhattan unbekümmert auf offener Straße umarmte oder sogar küsste.
Neben dem Alkohol, der die exzessive Trinkerin fast täglich zu einer Bemerkung zwang, ist ein Hauptthema der TAGE- UND NOTIZBÜCHER die Homosexualität. Die hassgeliebte Mutter, die übrigens ihre Pat mit Terpentin abtreiben wollte, quälte die Tochter immer wieder mit der Prophezeiung einer Wahrsagerin: »Sie haben ein Kind – einen Sohn. Nein, eine Tochter. Es hätte ein Junge sein sollen, aber es ist ein Mädchen.« Bereits mit zwölf war sich Highsmith bewusst, „ein Junge im Körper eines Mädchens zu sein.“ Und 1948 stellt sie kategorisch fest: „Nach allen platonischen Gesetzen bin ich ein Mann und liebe Frauen.“
Ihr Lebenstraum: „Ich habe diese beharrliche Vorstellung von einem Haus auf dem Land mit der blonden Ehefrau, die ich abgöttisch liebe, mit den Kindern, die ich abgöttisch liebe, auf dem Grundstück mit den Bäumen, die ich abgöttisch liebe.“ Er wird sich nie dauerhaft erfüllen. Stattdessen quält sich Pat durch unendliche, qualvolle Dreiecksbeziehungen, oft mit verheirateten Frauen, die sie auch gar nicht in ihrer Nähe ertragen kann. Schreiben kann Pat nur allein.
Die TAGE- UND NOTIZBÜCHER sind ein gewichtiges Kapitel in der Geschichte von Homosexualität und Literatur. Neben trotziger Überhöhung („Der Homosexuelle ist eine höhere Art Mensch als andere Menschen. […]Für den Homosexuellen ist die Ebene normal, die jeder gewöhnliche Künstler erst durch Glück oder Anstrengung erreichen muss, um Erfahrungen von künstlerischem Wert zu sammeln.“) finden sich quälende Passagen über Frauen, die Pat nicht mag oder die Pat nicht genug mögen und über Männer, die sie zwar faszinieren, aber nicht im Bett.
Über mehrere Jahre und viele Beziehungen ziehen sich die Erörterungen, ob sie nicht doch den Schriftsteller Marc Brandel heiraten soll. Unfreiwillig komisch, tragisch eine Nacht mit Arthur Koestler, mit dem sie lebenslang befreundet bleiben wird: „Koestler kam mit zu mir, wir haben es im Bett versucht. Eine elende, freudlose Episode. […] Koestler, praktisch wie immer, beschließt, das Sexuelle mit mir bleibenzulassen. Er habe nicht gewusst, dass Homosexualität so tief in einem drin sitze, hat er gesagt.“
Selbstzweifel und gesellschaftlicher Druck („Ich will das Geschlecht wechseln. Kann man das?“) treiben sie Ende der 40er Jahre dazu, sich in psychoanalytischen Sitzungen ‚umpolen‘ zu lassen. Selbstverständlich ergebnislos – aber das wusste man damals noch nicht. Schonungslos offen führen die TAGE- UND NOTIZBÜCHER ein fortwährendes Selbstgespräch, das der stetigen Selbstvergewisserung dient.
„Transzendieren“ – mit diesem „schönsten Wort“ meint Highsmith nicht nur die Überwindung der schmerzhaft erlittenen binären Geschlechterpolarität. Sondern auch den schöpferischen Prozess. Immer wieder betont sie, dass die kreativen Ideen aus dem Unbewussten kommen, Tagträumen ist ihr Gegenpol zur täglichen Schreibarbeit (acht Seiten). „Keime“ nennt sie, auf Deutsch, diese Ur-Ideen, die oft erstmals in den Tagebüchern auftauchen, um dann in den Notizbüchern zu Skizzen, ersten Szenen und Plotalternativen weiterverarbeitet zu werden.
Wer allerdings diese Prozesse im Detail nachvollziehen will, muss im Schweizer Literaturarchiv in Bern Notizbuch für Notizbuch durcharbeiten: Passagen, die verwandelt Eingang in ihre Prosa gefunden haben, hat sie durchgestrichen. In den Nachworten zu den einzelnen Romanen in der seit 2002 erschienenen Werkausgabe hat Paul Ingenday ihre oft zig Seiten umfassenden Vorarbeiten skizziert. Sie in diese Ausgabe der Tage- und Notizbücher zu übernehmen, hätte das mit 1400 Seiten bereits weit gedehnte Lesemaß gesprengt.
Lyrikerin und Aphoristikerin
Patricia Highsmith wurde immer wieder für ihren nüchternen, beinahe rapportierenden Prosastil gelobt. In den TAGE- UND NOTIZBÜCHERN lernt man gänzlich unbekannte Seiten der Suspense-Autorin kennen: ihre lyrische, ihre ekstatische und ihre aphoristische. Ihre Liebesgedichte strömen über von Pathos und Sinnlichkeit, erinnern zuweilen an die „Zigeunerromanzen“ Federico García Lorcas.
„Der keuschen Küsse wegen bleib ich nicht.
Oh! Oh! Oh! Oh!
Auch wegen ihrer starken Arme nicht.
Oh! Oh! Oh! Oh! […]
Will ich doch noch stärkere Arme,
Wahnsinnsarme, Teufelsküsse,
Zähne, die beißen, mich verwunden,
Mädchen mit Liebe, die niemals hält.
Oh! Oh! Oh! Oh!“
Und zwischen Landschaftsbeschreibungen, kleinen Skizzen über Begegnungen (mit Peter Handke 1974: „Peter hat das weiche Gesicht eines Mädchens. Seine Figur dagegen könnte etwas weiblicher sein.“) blitzen immer wieder Maximen auf, die in den Romanen der Highsmith wegweisend wurden: „Alles eine Frage der Moral, klar. Ich interessiere mich mehr für die Moral eines Menschen, der alle Konventionen hinter sich gelassen hat. Nur der Mensch und sein Gewissen – ohne dass er von seinen Nachbarn gelenkt oder beeinflusst wird.“
Den Weg der Patricia Highsmith zu diesem stolzen Selbstbewusstsein, durch tragische, Liebschaften, himmelhochjauchzendes Glück und tiefe Verzweiflung, gegen die immer die tägliche Arbeit half, kann man in den Tage- und Notizbüchern studieren. Es lohnt sich.
Und wie war sie wirklich? Marianne Fritsch-Liggenstorfer, die in ihrem Verlag Diogenes von 1981 an für die internationalen Rechte und Lizenzen der Highsmith zuständig und so etwas wie eine Vertraute war, erinnert sich: „Sie war sehr scheu, signalisierte mit ihrer ganzen Haltung: Komm mir nicht zu nahe. In angenehmer Gesellschaft konnte sie entspannt sein, erzählte Witze und brach in ihr tiefes Raucherlachen aus. Im geschäftlichen Umgang war sie sehr speditiv. Sie antwortete immer sofort, oft mit kleinen getippten A-5-Kärtchen. Als sie älter und gebrechlicher wurde, hatte ich das Gefühl, ich müsse sie beschützen. Sie war klein und sehr dünn.“
Dieser Artikel ist in einer kürzeren Fassung am 29.Okober 2021 in der ZEIT erschienen.
Patricia Highsmith: Tage- und Notizbücher
Herausgegeben von Anna von Planta
Aus dem Englischen von Melanie Walz, pociao, Anna-Nina Kroll, Marion Hertle und Peter Torberg
Diogenes 2021, 1392 Seiten