Aufzeichnungen eines Serienmörders – das ist nicht gerade ein Titel, von dem man sich in Pandemiezeiten Ermutigung erhofft. Und doch bietet dieser Thriller des koreanischen Autors Young-Ha Kim auf raffinierte Weise Seelentrost, enthalten doch die Notate des siebzigjährigen Byongsu Kim eine komplexe, teils auch paradoxe Reflexion über Zeit, Leben und Sterben.
Wer könnte darüber besser nachsinnen als ein Serienmörder im Ruhestand, dessen Verstand vom Verschwinden durch Alzheimer bedroht ist? Eingestreut in die straffe, aber zwangsläufig immer stärker zwischen Realitätsverlust und Einbildung schwankende Thrillerhandlung sind Erinnerungen an die Bedingungen des Mordens unter der japanischen Besatzung Südkoreas und der späteren Diktatur, aber auch philosophische Gedankenschnipsel. „Alzheimer ist ein schlechter Scherz, den sich das Leben mit einem alten Serienmörder erlaubt“ – derartige zwischen platter Komik und Aphorismus schillernde Perlen von dubiosem Echtheitsgrad machen auch eine wiederholte Lektüre zum Vergnügen.
Vor 25 Jahren hat Byongsu Kim die Eltern der kleinen Unhi ermordet, seitdem zieht er das verwaiste Mädchen als seine Tochter auf. Alles wäre in bester Ordnung, hätte es da nicht in der Umgebung diese drei Frauen gegeben, bei deren Ermordung jemand nach seinem früheren Modus Operandi vorgegangen ist. Ein Blick in den Wandkalender beruhigt: „Ich hatte wasserdichte Alibis. Dass ich es nicht gewesen sein konnte, war schön, weniger schön allerdings, dass einer nach Lust und Laune in meinem Revier wilderte.“ Bald hat er den Rivalen ausgemacht, doch ihn wiederzuerkennen und zu stellen fällt schwer bei schwindender Erinnerung. Ist der Mann, der seiner Tochter den Hof zu machen scheint, nicht dieser Jäger mit seinem Geländewagen, aus dessen Kofferraum er Blut tropfen sah? Byongsu hat nur noch ein Lebensziel: Er muss den Rivalen zur Strecke bringen, bevor seine Tochter ihm zum Opfer fällt.
Der Killer, dem die Realität, auf deren genaueste Kenntnis er angewiesen ist wie kein anderer, abhandenkommt, war 2011 auch das Thema in Der Killer stirbt von James Sallis. Im Unterschied zum Amerikaner, der den Fetisch des bedingungslos zu erfüllenden Auftrags dekonstruiert, spöttelt der Koreaner über die Kunst des Mordens („Ein Dichter ist wie ein geübter Mörder. Er packt die Sprache, um sie am Ende zu erlegen“). Der Surrealist André Breton hätte Young-Ha Kims kleines Meisterwerk fraglos in seine berühmte Anthologie des schwarzen Humors aufgenommen.
Young-Ha Kim: Aufzeichnungen eines Serienmörders
Aus dem Koreanischen von Inwon Park.
cass, 152 Seiten, 20 Euro
Der Beitrag ist ursprünglich in meiner Krimikolumne am 7. April in der ZEIT erschienen, voraussichtlich der letzten auf Monate – wegen Corona.
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