Krimi in der Krise — ob TV oder Buch: Autoren müssen sich den Realitäten stellen.
Tobias Gohlis und Katja Nicodemus sprechen mit drei Drehbuchautoren, die 2014 mit einem Kriminalroman debütierten und es damit alle auf die KrimiZEIT-Bestenliste schafften.
DIE ZEIT: Sie sind erfolgreiche Autoren von Fernsehkrimis. Nun debütieren Sie als Buchautoren – und haben wieder Krimis geschrieben. Warum nicht einen Liebesroman, einen Arztroman oder was auch immer?
André Georgi: Die Kriegsverbrechen, um die es in meinem Roman geht, könnte man im Fernsehen nicht erzählen, eher schon im Kino. Auf die Idee, den Arztroman zum Jugoslawienkrieg zu schreiben, bin ich irgendwie nicht gekommen.
Orkun Ertener: Ich wollte keinen Krimi schreiben. Ich habe versucht, einen Roman zu schreiben über Leidenschaft, Verbrechen und Missverständnisse. Ich finde es sehr bezeichnend, dass es nur in Deutschland dieses Label Krimi gibt, als handele es sich um eine Unterform der Literatur. Ein Roman wie Dostojewskis Schuld und Sühne wäre in Deutschland auch ein Krimi, weil es hier um Mord, Verbrechen und Aufklärung geht.
Georgi: Krimis sind hier nicht so richtig stubenrein, die stehen eigentlich in der Schmuddelecke.
Sascha Arango: Eine Subliteratur, die sich so langsam hocharbeitet. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass wir dann alle drei Krimis geschrieben haben.
ZEIT: Warum?
Arango: Ich habe nie etwas anderes gemacht. Das Verbrechen im Zentrum einer Geschichte ist für mich der Generator, der alles antreibt. Alle großen Erzählungen haben damit zu tun. Kain und Abel – der erste Krimi, der mir bekannt ist. Ich habe mich in diesem Debütroman bemüht, mich so nah wie möglich an das mir Bekannte zu halten: Alle Fernsehkrimis, die ich schreibe, gehen nach dem gleichen Muster auf. Ich stelle mich auf die Seite des Übeltäters, und dann begleite ich ihn.
Georgi: Ich wollte in einem Roman das machen, was ich in Drehbüchern gerade nicht machen kann: die Abgrenzung zwischen Dialog und Handlungsanweisungen verwischen, die Zeit dehnen und komprimieren, die Grenzen von Innen und Außen verschwimmen lassen, sodass der arme Kollege, der den Roman irgendwann adaptieren muss, so richtig Mühe hat!
ZEIT: Wie würden Sie in drei, vier Sätzen Ihre Hauptfiguren schildern?
Ertener: Meine Hauptfigur ist der Ghostwriter Can Evinmann, der nichts über sich weiß. Und eigentlich reicht dieser eine Satz. Er lebt so, als brauchte er nichts über sich zu wissen, und stellt im Laufe des Romans fest, dass das so nicht geht, nicht zu wissen, wer man ist und woher man kommt. Das waren vier Sätze.
Arango: Das ist eine perfekte Vorlage für mich! Mein Held, Henry Hayden, weiß mehr über sich als andere. Und er schützt dieses Wissen um jeden Preis. Er ist sein Leben lang bemüht, das, was ihn selbst so jagt und quält, nicht preiszugeben.
Georgi: Meine Heldin in Tribunal erfährt über sich selber und ihre Familie etwas, was sie lieber nicht gewusst hätte. Als Ermittlerin des Internationalen Gerichtshofs recherchiert sie Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien. Sie trifft auf ihre eigene Vergangenheit und erfährt, wer ihr Vater und ihr Bruder eigentlich waren.
ZEIT: Ist es die Gewalt, die Ihre Bücher zu Krimis macht?
Ertener: Ich würde das gern beantworten anhand von Andrés Buch. Ich habe mich jahrelang geweigert, mich mit dem Jugoslawienkrieg zu beschäftigen. Damals war mir dieser Krieg zu nah. Nun habe ich das Buch gelesen. Um es etwas pathetisch zu sagen, mit einem Kafka-Zitat: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Die Eruption von Gewalt, die da geschildert wird, hat mich dazu gebracht, nächtelang im Internet diesem Krimi nachzurecherchieren. Andrés Geschichte lässt sich ohne Gewalt nicht erzählen.
Georgi: Krimi ist im Kern eine Auseinandersetzung mit Gewalt. Aber nicht als Selbstzweck. Es gibt ja Unmengen von Thrillern, die unendlich viel Splatter-Gewalt haben, Serienmordgeschichten, in denen noch viel mehr Blut fließt als in meinem Buch. Trotzdem hat die Gewalt in Tribunal die Leute so sehr schockiert, weil sie einen realen Hintergrund hat und man sie nicht als „bloß ausgedacht“ beiseiteschieben kann.
Arango: Für mich ist das Verbrechen im Roman wie auch im Film nichts anderes als die Einleitung zu der elementaren Frage nach dem Danach. Jedes Verbrechen hat das Ziel, etwas Grundlegendes zu ändern. Und nachdem dieses Ziel erreicht ist, muss man sich in der Welt verorten mit seiner Schuld. Das interessiert mich. Die meisten Menschen, die ein Verbrechen begehen, planen immer nur bis zu dem erlösenden Moment der Tat und nicht darüber hinaus. Und deswegen gibt es meistens am dritten Tag danach dieses entsetzliche Fiasko. Ein kluger Mensch, ein Ingenieur, plant den Mord an Frau und Kind minutiös über Wochen und Monate. Er fährt an den Ort, spielt die Tat immer wieder durch, lässt die beiden verschwinden, fährt nach Hause und denkt, hier sei die Geschichte zu Ende. Und in diesem Moment beginnt mein Interesse.
ZEIT: Gibt es deshalb in Ihrem Buch immer wieder Reflexionen, fast Anleitungen, Rezepte zum Verbrechen? Da heißt es: „Der kompetente Verbrecher weiß, dass Kriminologie …“
Arango: „… als Wissenschaft eine sehr umfassende ist.“ Hier beginnt die große Freiheit, der große Luxus des Romanschreibens. Hier kann man seine persönlichen Einstellungen, seine Vorstellung zum Ausdruck bringen. Ich habe das als ungeheuer erlösend empfunden. Diese arrogante Metaebene zu betreten ist der ganz große Hit für uns Drehbuchautoren, die wir das ja nie dürfen. Im Roman kannst du dich – im Gegensatz zum Drehbuch – immer wieder überhöhen, du kannst dich distanzieren, du kannst dich persönlich ausdrücken, schöne Sätze loslassen.
ZEIT: Gehen Sie an Ihre Figuren anders heran, wenn Sie für Schauspieler schreiben, zum Beispiel, Orkun Ertener, in der Serie KDD – Kriminaldauerdienst? Sind das verschiedene Schreibformen?
Ertener: Die Unterschiede liegen für mich woanders. Einen Tatort oder einen anderen Neunzigminüter fürs Fernsehen zu schreiben ist was anderes als eine Serie für ein ganzes Ensemble. Vielleicht ist der Roman der Serie näher als dem Tatort. Wichtig ist vor allem die Freiheit, sowohl des Zuschauers als auch des Lesers. Es macht keinen Spaß, etwas hinzusetzen mit der Regieanweisung: Er nimmt jetzt die Flasche und zieht sie dem anderen über den Kopf, weil sein Vater ihn früher immer angeschrien hat. Wichtig ist der Moment, in dem ich versuche, einer Sache nachzugehen und mich anzunähern. Und diese Freiheit ist im neunzigminütigen Film am Sonntagabend eingeengt, weil ganz klar festgelegt werden muss, warum jemand irgendwas macht.
ZEIT: Und diesen Pseudorationalismus des Fernsehens wollten Sie mit Ihren Büchern durchbrechen?
Arango: Vor Gericht antwortete Anders Breivik auf die Frage, warum er 69 Menschen erschossen habe: „Weil ich Norwegen beschützen wollte.“ Dieses „warum, weil“ ist gänzlich unbefriedigend.
Ertener: Das erste Konzept von Krimi war wahrscheinlich, die aus den Fugen geratene Welt wieder zusammenzufügen. Was am Anfang in Scherben lag, ist am Ende wieder gekittet. Ich habe Erklärungen, Motive, all das. Und jetzt sitzen hier drei Autoren zusammen, die sagen, dass diese Welt sich vielleicht annäherungsweise beschreiben, aber nicht mehr zusammenfügen lässt.
Georgi: Man muss das Recht der Literatur gegen die Analyse verteidigen. Literatur beschreibt, sie ist der Ort, an dem man nicht klar sagt: darum. Das „Darum“ von Thesen und Analysen ist eine Reduktion der Komplexität der Welt, die Beschreibung verweigert sich dieser Reduktion.
ZEIT: Menschen und Figuren, um die es beim Schreiben geht, lassen sich nicht erklären.
Georgi: Beim Schreiben des Buches habe ich irgendwann komplett die Distanz zu meiner Figur verloren. Ich hatte das Gefühl, ich muss da wirklich eintauchen in diesen Bürgerkrieg, muss mich in die Perspektive dieser Frauen, auch der vergewaltigten Frauen, reinversetzen. Und deshalb war auch der Ausgang aus diesem Buch unvergleichlich viel schwerer als aus jedem Drehbuch, das ich je geschrieben habe.
Ertener: Ich habe auch nur noch aus den Augen meiner Hauptfigur geguckt. Selbstverständlich wird man irgendwann nicht nur zu einer Figur, sondern zu allen.
Georgi: Zu allen – das ist ein ganz wichtiger Punkt. Als Drehbuchautor muss man dieses personale Erzählen aus zig Perspektiven beherrschen. Darauf sind wir geeicht, sonst könnten wir keine Konflikte finden, die wirklich aus den Figuren kommen und nicht von außen aufgesetzt wirken. Und gute Filmdialoge könnten wir erst recht nicht schreiben. Wir leben ständig in diesem „Was du schreibst, ist, was du siehst“. Das ist eine unheimliche Herausforderung, eine fantastische Schule.
ZEIT: Ihre drei Romandebüts sind also deshalb so gut, weil Sie im Fernsehen gelernt haben, alle Seiten aller Figuren mitzudenken?
Arango: Wir wissen, wie viel ein Satz kostet. „Es regnet.“ Punkt. Wir wissen, was das kostet und wie lange das dauert. „Er erinnert sich an damals in Portugal.“ Das ist ein Satz, den man nicht verfilmen kann. Wir haben gelernt, was es bedeutet, einen Satz zu schreiben, und wie man ihn umsetzt. Das ist ein unglaublich disziplinierender Prozess.
ZEIT: Was kostet „Es regnet.“?
Arango: Das bedeutet Straßen absperren, vier Löschzüge und das Wissen, dass der Regen im Film viermal so stark sein muss wie in Wirklichkeit, um wie ein bisschen Regen auszusehen.
ZEIT: Der Drehbuchautor arbeitet immer mit einer Gruppe, er kriegt Reaktionen der Fernsehredakteure, der Schauspieler, des Regisseurs. Wie kamen Sie mit der Einsamkeit des Schriftstellers klar?
Arango: Die ist mir völlig unbekannt, ich kenne nur die Einsamkeit dessen, der nicht schreiben kann. Ebenjene, die ich fühle, wenn mir nichts einfällt. Das sind Momente wahrhaftiger Einsamkeit. Sobald ich aber schreibe, bin ich frei und bestens unterhalten.
Georgi: Stimmt, das Schwierige beim Schreiben ist das Nichtschreiben …
Arango: Ja! Und es dauert am längsten.
Ertener: Mir macht Schreiben keinen Spaß. Ich muss schreiben, und es macht mir dann Spaß, wenn ich geschrieben habe. Wenn ich am Abend aufstehe. Aber ich muss schon zwischendurch kotzen beim Schreiben. Okay, das meine ich im übertragenen Sinne. Und beim Film oder Fernsehen ist das, was dann zu sehen ist, nie mein Produkt. Nie! Auch wenn kein Wort geändert wurde, kommen lauter Kreativitäten dazu. Der Regisseur, die Schauspieler, die Ausstattung, alles. Jetzt haben wir etwas gemacht, was für sich selber steht …
ZEIT: Wo Sie den Credit mal alleine haben …
Ertener: Nicht nur wegen des Credits. Wir haben das Produkt selber gestaltet, das Ergebnis, das Werk selbst, ganz allein, und wir verantworten es auch allein. Das ist der wesentliche Unterschied.
Arango: Wir erleben alle drei, was es bedeutet, to get the fucking credit. Das haben wir vorher noch nie gehabt. Beim Roman hat mich nie einer gefragt, ob ich auch die Dialoge schreibe. Ob man tatsächlich alles schreibt – auch die Dialoge? Nein, nein, die erfindet der Schauspieler, die kommen aus dem Schauspieler! Der Romanautor erlebt ein unglaubliches Ich. Bei der Premiere eines Kinofilms hört man oft: „Können Sie einen kleinen Schritt beiseitegehen? – Danke.“
Georgi: Mein Roman wird jetzt übersetzt, und ich bekomme von Verlagsleuten mehr Reaktionen als aus dem Filmbusiness. Ich weiß nicht, ob die beim Film wirklich realisiert haben, dass ich einen Roman geschrieben habe. Und wenn ja: Ach, ist ja nett, aber 300 Seiten, wann soll ich das lesen? Gibt’s das auch als Hörbuch?
ZEIT: War es beim Schreiben der Bücher anders als beim Drehbuch, an den Moment zu gelangen, an dem Sie mit dem Geschriebenen zufrieden sind?
Arango: Beim Drehbuchschreiben habe ich eine Selbstsicherheit, die mir selber schon peinlich ist. Beim Roman ist das völlig anders. Ich habe meinem Lektor gesagt: Ein falsches Wort, und ich höre auf! Infolgedessen konnte ich auch all sein Lob in keiner Weise zuordnen: Du heuchelst doch die ganze Zeit!
Georgi: Wenn mir eine Szene wehtut, dann ist sie gut. Wenn ich das Gefühl habe, hier berührt mich nichts, ist sie schlecht. Es gibt in meinem Roman dieses Bild: Ein Feld blüht, es wird umgepflügt, und es kommen Leichenteile hervor.
Arango: Wunderschönes Bild!
Georgi: Dieses Bild ist immer da, und ich habe von Anfang an gewusst, dass es so sein muss, wie es ist. Wenn wir Filme für sechs, zehn oder elf Millionen Zuschauer schreiben, sagt eh jeder was anderes. Am Ende muss ich mich auf das verlassen, was mein Gefühl sagt.
ZEIT: Wir reden von Verbrechen und Kriminalität, Literatur und Fernsehen. Ist es nicht so, dass große Serien Kriminalität unter Umständen sogar mächtiger erzählen als ein Roman?
Arango: In Formaten wie The Wire oder Breaking Bad ist es gelungen, einen 70-Stunden-Romanfilm zu machen von großer Intensität. Etwas, was wir hier nie gewagt haben. Es würde uns auch nicht erlaubt.
Ertener: Ich denke, KDD war so ein Versuch.
Arango: Eben, KDD war dieser erste …
Georgi: Kriminaldauerdienst und Im Angesicht des Verbrechens von Dominik Graf und Rolf Basedow, das waren die beiden großartigen deutschen Fernsehserien der letzten Jahre.
Ertener: Soll ich das mal umdrehen? Was KDD und Im Angesicht des Verbrechens für das deutsche Fernsehen geleistet haben, ist, der Sargnagel ihrer selbst zu sein. Dadurch, dass beide Serien tatsächlich so gut oder so innovativ waren und doch so schlecht ankamen, ist seit fünf Jahren nichts mehr passiert.
Arango: Aber das ist die Herrschaft der Bürokraten im Fernsehen. Das dürfen wir nicht dem Publikum verübeln.
Georgi: Man muss wirklich sagen: Mit KDD und Im Angesicht des Verbrechens hat das deutsche Fernsehen gezeigt, dass es mit den Amerikanern und Skandinaviern mithalten kann. Wenn man uns ließe, könnten wir es auch.
Arango: Aber wir stehen doch vor einer Zeitenwende! Wir müssen nur warten.
ZEIT: Worauf?
Ertener: Es geht um das Autorenprinzip, ganz klar. In Deutschland herrscht das Primat des Regisseurs. Man kann eine horizontal erzählte, lang laufende Serie nur stemmen, wenn das Primat des Autors herrscht, wenn es Autorenfernsehen ist. Das haben wir hier nicht. Die Rolle des Autors ist schwächer als in Skandinavien. Wer wird den Autoren diese Macht geben? Die Autoren müssen sie sich selber holen.
Arango: Das ist es! Ich gebe den Autoren die Hauptschuld an der Misere der Autoren. Wer sich von jemandem sagen lässt, was er zu schreiben hat, ist selber schuld. Und diese Kollektivschuld der Kooperation mit der Macht, die suche ich bei den Autoren. Kann man es einem Löwen verübeln, eine Gazelle zu fressen, die an ihm vorbeiläuft? Nein.
ZEIT: Was bedeutet Autorenfernsehen ganz konkret, praktisch?
Ertener: Es bedeutet: Handschrift. Dass jemand eine Vorstellung hat von dem, was er erzählen möchte, und das über zwanzig, dreißig Folgen hinweg auch durchzieht. Er ist der Autor. Er ist auch der Showrunner. Er muss über kurz oder lang auf irgendeine Art und Weise, wie es auch in der letzten Staffel bei KDD war, mitproduzieren. Er braucht Macht.
ZEIT: Wir erleben gerade zwei Krisen: die des routiniert vor sich hingeschriebenen Kriminalromans, in dem man eine Leiche an irgendein Flussufer legt und denkt, dann entwickle sich die Geschichte schon. Und ein ganz ähnliches Ersticken in Formelhaftigkeit beim Fernsehen.
Ertener: Absolut. Aber wir ersticken auch an Realitätsverweigerung.
ZEIT: Weil Autoren und Erzähler die Realität nicht sehen wollen?
Ertener: Im Fernsehen findet Realität nicht oder wenig statt. Was erzählt die skandinavische Serie Borgen? Was erzählt Breaking Bad?
ZEIT: Ein Krebskranker treibt Geld auf, um für seine Familie zu sorgen …
Ertener: Ja, aber ich kriege ganz viel über Amerika mit, ich kriege ganz viel über Hoffnungslosigkeit mit, ich kriege ganz viel darüber mit, wie es ist, wenn man ohne Krankenversicherung Krebs hat. Ich kriege ästhetisch aber auch ganz viel mit, wenn ich dieses New Mexico sehe. In diesen vielen 45-minütigen deutschen Fernseh-Franchiseformaten läuft es aber in der Regel so ab: Es liegt eine Leiche an einem Fluss, und wir singen das Lied der Leiche.
Arango: Und der Hund kommt vorbei.
Ertener: Ich will jetzt gar kein Kollegen-Bashing machen, aber wir lernen nichts über die Stadt, in der die Leiche liegt. Die könnte in Leipzig, in Konstanz liegen, ganz austauschbar.
Georgi: Ja, man kann diese Krise auf der thematischen Seite beklagen, als Realitätsverlust. Man kann aber auch sagen, sie liegt in der Form des Erzählens, im Formelhaften, in der Erstarrung. Die großen Serien sind deshalb spannend, weil sie auf einer ganz anderen, an Macbeth orientierten Dramaturgie beruhen: Ein Guter fällt und wird zum Bösen – Stück für Stück. Und wir begleiten ihn dabei. Dieser Abschied vom „Whodunnit“ hat sich hier aber noch nicht durchgesetzt. Vielleicht macht der Abstieg einer Figur Angst, vielleicht ist ihre Ambivalenz nur schwer erträglich.
Ertener: Ich weiß aber auch nicht, ob wir diesen Weg, den Breaking Bad gegangen ist, in Deutschland auch gehen müssen, ob das unsere Tradition werden muss.
ZEIT: Sascha Arango, Sie betreten die Bühne mit einem Romandebüt und sind sich zugleich sicher, dass im Fernsehen die Zeitenwende kommt?
Arango: Es ist zu spüren. Die Zusammenarbeit zwischen Regie und Autorenschaft hat inzwischen immer weniger Hürden, kaum mehr Auflagen.
Ertener: Ich würde das nicht unterschreiben. Ich bin mir da nicht sicher. Ich habe jetzt zwanzig Jahre im Fernsehen gearbeitet, und ich denke, ich habe meinen Beitrag geleistet. Ich werde beim Romaneschreiben bleiben, definitiv, ob es jetzt jemand lesen will oder nicht, ich möchte die Revolution des deutschen Fernsehens nicht hauptverantwortlich vorantreiben.
Georgi: Nicht von den Barrikaden aus erleben?
Ertener: Lieber vom Kaffeehaus aus, wo ich dann vielleicht an einem Roman schreibe über den deutschen Fernsehbetrieb. Warum eigentlich nicht?
Biografien:
Sascha Arango, 1959 als Sohn eines Kolumbianers und einer Deutschen geboren, hat etliche Drehbücher für die Serie Eva Blond und für die in Kiel spielenden Tatorte um Kommissar Borowski (Axel Milberg) geschrieben und erhielt zweimal den Grimme-Preis.
In Die Wahrheit und andere Lügen tötet der Schriftsteller-Darsteller Henry Hayden statt seiner schwangeren Geliebten seine geliebte Ehefrau. Sie war die geheime Verfasserin der Romane, für die er berühmt ist.
Orkun Ertener stammt aus einer türkisch-italienisch-deutschen Familie und wurde 1966 in Istanbul geboren. Nach Drehbüchern für Tatort und andere Krimiserien entwickelte er als verantwortlicher Autor die Serie KDD – Kriminaldauerdienst um eine Berliner Polizeieinheit. Die Serie wurde mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet und wegen schlechter Quote 2010 abgesetzt.
In Lebt recherchiert der Ghostwriter Can Evinmann die Biografie einer Schauspielerin, stößt aber auf die von ihm verleugnete Geschichte seiner Familie. Beide sind mit den Verbrechen der Nazis und den Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts verquickt.
Der 1965 in Kopenhagen als Sohn deutsch-dänischer Eltern geborene André Georgi adaptierte neben Drehbüchern für den Tatort und Bella Block Siegfried Lenz (Die Flut ist pünktlich) und Ferdinand von Schirach.
In Tribunal werden die Verbrechen des Bosnienkriegs aus der Sicht einer jungen Polizistin erzählt, die für den Internationalen Gerichtshof in Den Haag arbeitet.
Dieser Beitrag erschien im Krimi-Spezial der ZEIT vom 6.Novembe 2014; LEBT startete auf der KrimiZEIT-Bestenliste im April, TRIBUNAL im Juni und LEBT im September
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