Un-Su Kim spielt aus Korea das europäische Bild vom Samurai zurück: Sein Auftragskiller ist eine kafkaeske Figur in der unrühmlichen südkoreanischen Geschichte von politischem Mord und Totschlag
Raeseng soll von ferne einen alten Mann erschießen, der in seinem Garten arbeitet. Aber er findet den rechten Augenblick dazu nicht, und dann schläft er ein. Der alte Mann weckt ihn, lädt den vermeintlichen Jäger in sein Haus, zecht mit ihm die Nacht durch. Am nächsten Morgen verabschiedet sich Raeseng und erschießt den alten Mann von ferne.
Lakonisch berichtete Szenen wie diese rücken Un-Su Kims Roman Die Plotter in ein merkwürdiges Licht. Man kommt sich bei der Lektüre vor wie der automatische Fokus einer Digitalkamera, der sich bei Dämmerung nicht scharf stellt. Ständig springen die Bedeutungen weg. Dabei handelt es sich scheinbar um ein vertrautes Sujet, dem der 1972 geborene Kim nur eine (süd)koreanische Variante hinzufügt: die Einsamkeit des Auftragsmörders.
Aber schon der Titel zielt nicht auf den einsamen Mann mit seiner Waffe, sondern auf die, die hinter ihm stehen: Die Plotter sind gesichtslose „Mordservice-Provider“. Seit mehr als 90 Jahren (seit Korea Japans Kolonie wurde) entwerfen die Plotter Mordpläne für die Herrschenden. Raeseng ist schlichter Auftragskiller, ein Angestellter der Mordmaschine. Viel älter als 28 wird er – das weiß er mit stoischem Fatalismus – nicht werden. Seine Unschuld erinnert an Parzival, sein Herumirren an Odysseus, und Melvilles Eiskalter Engel (im Original Le Samouraï) gehört auch zu Kims Anspielungskosmos, wie der dramatische Showdown erkennen lässt.
Raeseng, der in einer Mülltonne gefunden wurde, wuchs als Waisenkind in der Bibliothek des „Dog House“ auf, unter Kontrolle des verkrüppelten Bibliothekars Old Raccoon. In der Bibliothek wurden alle Mordaufträge besiegelt, hier steht unter zwanzigtausend Büchern auch das, in dem Raccoon alle Aufträge der letzten vierzig Jahre verzeichnet hat.
Koreaner werden Kims zeithistorische Anspielungen noch genauer entschlüsseln können. Nicht nur Raeseng, der unvermutet zögernde Schütze, sondern das ganze System der Plotter ist ins Wanken geraten. Wahlen stehen an, mit dem smarten Hanja meldet sich eine jüngere Generation von Plottern, die geschmeidig auf die neue Situation eingehen will. Denn die Zeiten von Militärdiktatur und CIA-Vormundschaft scheinen vorbei. Mit der geheimnisvollen Mito, die Raeseng eine Minibombe in die Kloschüssel platziert hat, tritt eine Widersacherin auf den Plan, die das Zeug dazu hat, das ganze Plotterwesen in die Luft zu sprengen. Mit groteskem schwarzem Humor, romantischer Zärtlichkeit und grellem Witz erzählt, kommt uns Un-Su Kims ratloser Auftragsmörder immer weniger wie ein Samurai vor. Er erinnert eher an Josef K., der auch nicht wusste, wessen man ihn angeklagt hatte.
Dieser Text ist in der ZEIT 4/2019 vom 16. Januar 2019 erschienen
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