Sieben neue Titel: je zwei aus Irland, Deutschland und den USA, einer aus Nigeria. Die Schauplätze: „Ardnakelty“, West-Irland, Sardinien, Berlin, Lagos, San Francisco, Boston, Kalifornien, Dublin, Irland, „Arden“, Ohio, namenloser Ort.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit zwei Jahren und sieben Monaten.
Weiter auf Platz Eins im September:
Die Narren sind auf unserer Seite (The Fools in Town are on Our Side)
Die Krimibestenliste September stellt sich in zwei neuen Romanen der chinesischen Bedrohung, bedroht die Intaktheit menschlicher Körper und Identitäten in weiteren zwei Romanen, umkreist Rasse und Klasse ebenfalls zweifach und wirft die real brennende Frage auf, was man machen kann, wenn die Autoritären Nationalisten das normale Leben ihrer politischen Kontrolle bringen.
Neu auf der Krimibestenliste September:
2 Feuerjagd (The Hunter)
Im zweiten Band von Tana Frenchs West-Irland-Serie um die widerspenstig-autonome Trey, inzwischen fünfzehn, und den Ex-Cop Cal Hooper werden die Dörfler von Ardnakelty heftigen Versuchungen ausgesetzt. Wie weiland dem Heiligen Antonius der Teufel nackte Frauen und Familienglück vorgaukelte, so locken zwei Fremdlinge aus London die braven skeptischen West-Iren mit Versprechen, denen sie kaum widerstehen können. Gold soll im Fluss liegen. Noch anziehender sind Mythos, Tradition, große Geschichte eines Kaffs am Rande der irischen Insel.
Einer, der sich schon mal als Verräter erwiesen hat, Treys lange verschollener Vater mit der einschmeichelnden Stimme und den anheimelnden Manieren, gibt den Mittler zum reichen Rushborough, bei dem die Schafzüchter und Landbesitzer ihr gehortetes Geld anlegen sollen, um den Goldrausch zu finanzieren. Skeptisch sind nur Cal Hooper und dessen handfeste Freundin Lena, die Schutzengel von Trey. Die aber heizt die Goldgier der Bauern mit allerhand Lügen und Versteckspielen weiter an. Denn so wird sie Rache an denen nehmen können, die mit ihrer Engstirnigkeit und Kleingeisterei den Tod ihres älteren Bruders Brendan verursacht haben.
Treys Suche nach dessen Leichnam und ihre Sehnscht nach Rache halten die Trilogie zusammen. Auch der HUNTER (der Titel ist ebenso wenig sinnfällig wie der deutsche: FEUERJAGD) erlöst Trey (noch) nicht.
Meine den religiösen Background betonende Zusammenfassung ist nur eine der vielen möglichen Sichtweisen auf Tana Frenchs erstaunliche Dorfgeschichte. Man weißt nicht, soll man sich auf den dritten Band freuen oder das nahe Ende (in ca. zwei Jahren) fürchten?
Sonja Hartl hat am 6. September im Deutschlandfunk Kultur ihre Sicht der Dinge im fiktiven Ardnakelty dargelegt.
4 Die Chinesin
Jochen Brunow (Drehbuchautor, Jahrgang 1950) hat sich mit DIE CHINESIN eine nette Altherren-Phantasie zurechtgesponnen.
Gerhard Beckmann, frühpensionierter Kriminaler aus Berlin, leidet im noch gemeinsam erworbenen Refugium auf Sardinien unter dem Verlust seiner verstorbenen Frau und der Entfremdung von seiner Tochter, was ihn aber nicht völlig unempfänglich macht für den Genuss weiblicher Reize.
Erst rettet die ungefähr dreißigjährige Xia, die sich am Strand als Masseurin durchschlägt, dem alten Mann das Leben, indem sie bei der Rückenmassage ein winziges Melanom entdeckt. Dann wird ihre Schwester ermordet, chinesische Gangster und Diplomaten rollen das ökonomisch reizvolle Pflaster der neuen Seidenstraße aus, Sardinien verliert fast seinen sardischen Charakter und Xia muss untertauchen. Jetzt ist Beckmann dran und rettet, tatkräftig trotz Altersmelancholie, der Chinesin das Leben. Nette Pointe: Ohne ausreichende Erklärung verschwindet sie in einer Truppe chinesischer Touristen. Die sind, wie Beckmann ganz richtig kombiniert, unter jedem Stein zu finden, den man umdreht.
Liebe Leserinnen und Leser,
ab hier fallen aus Zeitgründen meine Nebenbei-Kommentare knapper aus. Bitte stützen Sie sich auf die Krimibestenliste, die zu jedem Titel 320 Zeichen Inhalt und Würdigung bereithält.
6 Zügel der Macht (Easy Motion Tourist)
Die Hitze und Hektik der Millionenmetripole Lagos könnte man buchstäblich atmen in Leye Adenles Thriller-debüt ZÜGEL DER MACHT, stünde dem nicht eine so bürokratisch durchexerziert korrekt-woke Übersetzung entgegen.
Katrin Doerksen hat sich kritisch mit der Rolle des weißen Journalisten Guy auseinandergesetzt, der als Ich-Erzähler das Chaos, die enthemmte Gier nach Geld und Menschenfleisch interpretiert. Und der Heldin Amaka, die noch in zwei weiteren Bänden auftreten wird, ihre Ehre erwiesen.
7 Bis in alle Endlichkeit (Blood Relations)
Nach seinem überragenden Weltkriegs-Donner FÜNF WINTER konnte man gespannt sein, was Jonathan Moore aka James Kestrel neues aus seiner Wundertüte holen würde.
Nun, es ist nichts ganz Neues: BLOOD RELATIONS wurde in den USA zwei Jahre früher, 2019, veröffentlicht als der Roman, mit dem er hierzulande zuerst als James Kestrel bekannt wurde.
Die Story knüpft örtlich (San Francisco) an den 2016 unter Jonathan Moore veröffentlichten verwunschenen Roman POISON ARTIST an, und kreist ähnlich wie dieser um ein ikonisches Bild amerikanischer Kulturgeschichte: das 1947 geschossene Foto einer Selbstmörderin auf einem Autodach. (Dank an Hannes Hintermeier für den Hinweis.)
In BIS IN ALLE ENDLICHKEIT ist es ebenfalls eine junge blonde Schönheit, die mondän, aber widersprüchlich, in einem der ärmsten Quartiere auf dem Dach eines Rolls-Royce landet. Die kreisförmigen Narben auf ihrem Rücken geben der folgenden Entdeckungsreise des halbseidenen Privatdetektivs Lee Crowe eine fatal üble Richtung: Wie kommt es, dass am noblen Studienort der verstorbenen Claire Gravesend (nomen es omen) eine Frau auftaucht, die der Toten bis auf die Form der Ohrläppchen gleicht?
Nur ein bisschen gespoilert: Kalifornien und speziell die Gegend um San Francisco wird von der seltsamen Spezies der Transhumanisten bevölkert…
8 Das Lied des Propheten (Prophet Song)
Was Noir – nicht im ästhetischen, kriminalliterarisch cinéastischen Sinn, sondern existenziell – bedeutet, arbeitet der Ire Paul Lynch in seiner zu Recht mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Dystopie durch. Nachdem in Irland eine Nationale Allianz die Macht ergriffen hat, pocht Gewerkschafter Larry auf sein verfassungsmäßiges Recht, schließt sich einer Demonstration an, wrd verhaftet und verschwindet in einem Lager. Seine Frau Eilish, Biochemikerin, Mutter von vier Kindern, durchlebt im folgenden den wie ein Schraubstock sich zuziehenden Albtraum einer autoritär-nationalistischen Diktatur. Aus dem mittelständisch aufgeklärten „Das kann uns hier doch nicht passieren“ wird Tod, Flucht, Ausweglosigkeit.
„Der irische Schriftsteller hat aber nicht nur eine Dystopie geschrieben, die jederzeit und überall aktuell werden kann,“ schreibt Sylvia Staude in ihrer eindringlichen Rezension. „Das Bemerkenswerteste am LIED DES PROPHETEN ist Lynchs gleichsam rennender, rasender Sprachfluss, seine Sprachmacht, die nicht locker lässt.“ Das Ende, von dem die Propheten immer schon sangen, ist ganz nah, es klopft an deine Tür.
Das Buch zur Stunde.
9 Das schwarze Chamäleon (If 6 were 9)
Jake Lamar (*1961) ist eine Entdeckung. Wie er den Bronx-Sprössling, Harvardabsolventen und Unidozenten auf einem französischen Krimifestival fand, beschreibt sein Übersetzer Robert Brack im Nachwort.
1993 zog Lamar nach Paris, unter anderem enttäuscht über Verbürgerlichung und Abflauen der einstmals revolutionären Bürgerrechtsbewegung. Die politischen und ästhetischen Hintergründe seines Campus-Krimis, seiner Satire auf den schwarzen akademischen Mittelstand, zu dem er selbst gehört, hat er in dem Essay JIMI HENDRIX’ GRAMMATIK beschrieben. Er spielt 1992.
Als weiße, europäische Leserinnen und Leser können wir vermutlich nicht so herzhaft lachen wie das schwarze amerikanische Publikum, aber eine wilde Komödie ist DAS SCHWARZE CHAMÄLEON allemal.
9 Yoko
Bernhard Aichner nennt selten die Schauplätze, an denen seine Thriller spielen, bei ihren exakten geographischen Namen. So kann die Stadt, in der YOKO, nach dem größten Liebespaar der Pop-Geschichte benanntes Findelkind, erst eine Metzgerei, dann eine Glückskeks-Manufaktur betreibt, Innsbruck oder Wien oder Klöch in der Steiermark sein. Es kommt nicht auf das Ambiente, sondern auf das nackte Gerippe der Action an.
Und das ziseliert Aichner in YOKO in vertraut gekonnter Manier heraus. Wobei Yoko lernt, wie tief im Verdrängten Rache wurzeln und wie heilsam sie sein kann. Der letzte Satz: „Am Himmel lichten sich die Wolken.“
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE SEPTEMBER?
Die KRIMIBESTENLISTE SEPTEMBER ist seit Freitag, dem 6. September 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Sonja Hartl hat hier über die Krimibestenliste September gesprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 2. September hat Sonja Hartl über die Nummer zwei der Krimibestenliste September, den höchsten Neueinstieg FEUERJAGD gesprochen.
Kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste September nebst hochinteressanten Rezensionen nicht nur zu den Titeln der Krimibestenliste.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Tage!
Ihr Tobias Gohlis
Matthias Dietz meint
Die Bandbreite der „Besten“ von Ross Thomas bis zum holzschnittartigen Comercial von Aichner scheint mir etwas verpeilt. Aichner ist wohl eher unterste Schublade. Oder war das etwa Ironie? Was hat so ein Buch in der Bestenliste verloren?
Tobias Gohlis meint
Lieber Matthias Dietz,
sorry, dass ich erst jetzt antworte. Bei 17 Juroren und zehn Titeln ist die Bandbreite der Besten weit gespannt. Eine Jury ist keine Person, kennt also auch keine Ironie. Mich würde natürlich inhaltlich interessieren, was Sie genau an Aichners Buch kritisieren.
Herzlich Tobias Gohlis