Die Krimibestenliste im September: schon wieder sieben neue Krimis, diesmal aus fiktiven Orten der USA und Westafrikas, aus Wien, Oxford und Marbäck
Zum Wundern ist es schon, wenn sich Autoren aus völlig verschiedenen Weltgegenden Ähnliches einfallen lassen. Zum Beispiel Stephen King und Heinrich Steinfest – in der Literatur gibt es sie ja eh, die morphogenetischen Felder, die Rupert Sheldrake auch in der physischen Welt vermutet.
Dass Stephen King gerne Schriftsteller und ihre Arbeit in seinen Werken in den Mittelpunkt stellt, wissen wir spätestens seit Shining. Das Overlook-Hotel, das er in diesem Roman in Flammen aufgehen ließ, winkt von ferne über die Berge Colorados in sein neuestes Buch BILLY SUMMERS herüber.
Billy ist ein Irakveteran und Auftragsmörder, der sich auf seinen letzten Auftrag monatelang in der Tarnexistenz eines Schriftstellers vorbereitet und dabei auf den Geschmack des Schreibens kommt. Wer bin ich und bin ich ein schlechter Mensch, der immerhin! nur schlechte Menschen tötet – das sind die Fragen, denen er sich autobiografisch widmet. Dass seine Auftraggeber, die ihn für einen Einfaltspinsel halten, Billy ausgerechnet diesen Beruf zur Tarnung ausgesucht haben, ist wohl dem Drang des Autors King zu verdanken, immer wieder auch sein persönliches Schicksal in seinen Romanen zu spiegeln.
Noch wildere Kapriolen schlägt die Fantasie des Heinrich Steinfest. DIE MÖBEL DES TEUFELS ist nämlich nicht nur der Titel seines neuen Romans, in dem unter anderem die vertrauten Figuren des einarmigen Detektivs Cheng, des Hundes Lauscher (als Schatten) und der Frau Wolf ermitteln, sondern es ist auch der Titel eines Romans, der vor den geschilderten Ereignissen, die 1976 mit dem Einsturz der Reichsbrücke in Wien einsetzen, verfasst wurde. Und in diesem, allerdings nur in einem Exemplar vorhandenen Roman von 1974 (!) werden große Teile der Erlebnisse eines gewissen Leo Prager, der Hauptfigur des 2021 veröffentlichten, unter Coronabedingungen geschriebenen Romans DIE MÖBEL DES TEUFELS vorweggenommen. Heinrich Steinfest, Verfasser beider Romane, hat sie in der Zeitschleife der Coronapandemie verfasst. DIE MÖBEL DES TEUFELS ist ein Bravourstück in erzählerischer Equilibristik: immer auf dem Hochseil.
Apropos Flammen: Sowohl im halländischen Marbäck als auch in Oxford, sehr realen Orten auf der europäischen Landkarte, bilden in böser Absicht niedergebrannte Häuser den Ausgangspunkt weitverzweigter kriminalistischer Erzählungen. Der Kriminologe Christoffer Carlsson geht in UNTER DEM STURM sehr feinsinnig und behutsam der Frage nach, inwieweit „schlechte“ (schon wieder!) Eigenschaften vererbt werden und welche Verheerungen diese Idee in den Seelen anrichten kann.
Die Literaturwissenschaftlerin Cara Hunter setzt Ihrem CID-Team um DI Adam Fawley in NO WAY OUT einen verzwickten, sorgsam erzählten Whodunnit vor, in dem praktisch alle vorkommenden Personen – ausgenommen entfernte Zeugen und Polizisten – der Brandstiftung und des Mordes verdächtig sind. Abgesehen von Mobiltelefonen und Autos könnten fast alle Elemente aus dem 19. Jahrhundert stammen: Erbschleicherei, Testamente, uneheliche Kinder.
Castle Freemans HERREN DER LAGE ist ein sehr komischer, dabei überhaupt nicht alberner Krimi aus den Hinterwäldern (nicht Schwedens, sondern) Vermonts.
Tade Thompsons WILD CARD ist eine Groteske über die Geld- und Machtgier afrikanischer „Freiheitskämpfer“, über die Korruption und die Machenschaften (west-)afrikanischer Politiker. Betrachtet aus der Perspektive eines Mannes, der als kleiner Wachmann, geflüchtet aus Yoruba-Land, in London lebt, sich über die primitiven Sitten seiner afrikanischen Landsleute erhebt und doch, kaum ist er besuchsweise wieder dort, ganz schnell in die verachtete Primitivität verfällt. Weston Kogi, so heißt er, denkt darüber nach, in seinem fiktionalisierten Heimatland Ede eine Detektei aufzubauen. Uns Lesern ist das nur zu wünschen: Lange kein frecheres, drastischeres Buch mehr gelesen. Thompson, in London geboren, mit seinen Yoruba-Eltern im Alter von sieben nach Nigeria gezogen, dort aufgewachsen, lebt heute als Schriftsteller und Psychiater im Süden Englands.
Um einen in keiner Hinsicht normalen Kriminalroman handelt es sich bei James Sallis‘ SARAH JANE. Was der „Philosoph unter den Krimiautoren“ (Joachim Feldmann) darin veranstaltet, könnte Gegenstand kontroverser Literaturanalysen werden. Ich hab mir den Reim darauf gemacht, dass Sallis die Probleme von Erkennbarkeit von und Einsicht in Schuld mit den Mitteln der Kriminalliteratur nachgeht: Identifizierung von Indizien, Schlussfolgerungen, Erinnerungs- und Aussagelücken, Zeitsprünge. Bloß, dass er sie nicht nur den Lesern zum Enträtseln vorlegt, sondern auch seiner Ich-Erzählerin Sarah Jane.
Womit sich der Kreis schließt: Wer sind wir? Was können wir wissen?
Die Krimibestenliste September ist seit Freitag, dem 3. September, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im crimemag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert. Und bereits am Freitag morgen hat Kolja Mensing den höchsten Neueinstieg in der Septemberliste im Deutschlandfunk besprochen: James Sallis‘ SARAH JANE
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
Ihr Tobias Gohlis