Nach 70 Jahren wieder aufgetaucht: ein feministischer Noir von C.S. Forester
Man stelle sich vor, Miss Marple oder Harriet Vane, Lord Peter Wimseys Gattin, redeten von Verhütungsmitteln. Shocking! Die Leserinnen von Agatha Christie und Dorothy Sayers ließen die Teetassen fallen. So war das Golden Age der Kriminalliteratur: In den Jahren zwischen den Weltkriegen lösten Upperclass-Figuren ohne Unterleib lebensferne Mordpuzzles. Auch die hard-boiled Jungs auf der anderen Seite des Ozeans schickten ihre misogynen Detektive eher in Spielhöllen als in die tristen Schlafzimmer der Vorstädte. Genau dorthin versetzt aber Cecil Scott Forester seine Leserinnen in einem 2011 entdecken Kriminalroman von 1935.
Forester – das ist doch der Verfasser dieser Horatio Hornblower-Romane?! Richtig, aber bevor er diesen ebenfalls etwas geschlechtslosen, schüchternen und seekranken Helden der Meere schuf, der ihm das zweifelhafte Lob Friedrich Sieburgs eintrug, er habe „die sauberste Unterhaltungsliteratur der Gegenwart“ verfasst, hat Forester schmutzige Krimis geschrieben. Crime Noirs avant la lettre, um präziser zu sein. Hätte sich 1926 sein Krimidebüt PAYMENT DEFERRED („Zahlungsaufschub“) durchgesetzt, und nicht Agatha Christies im selben Jahr erschienener Rätselkrimi The Murder of Roger Ackroyd („Alibi„), wäre die Geschichte der Kriminalliteratur anders verlaufen. Jetzt aber wird sie umgeschrieben.
Forester hatte 1935, zwischen USA und England pendelnd, seinen dritten Krimi verfasst und sich, bevor er ihn verkaufen konnte, als Berichterstatter in den Spanischen Bürgerkrieg gestürzt. Rund 70 Jahre später tauchte das Manuskript wieder auf und wurde von cleveren Mitgliedern der Forester-Society ersteigert. Jetzt lesen wir The Pursued auf deutsch: Tödliche Ohnmacht. Und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Marjorie, Hausfrau, Mutter von Derrick (4) und Anne (7) und seit zehn Jahren mit Ted, einem Angestellten der Gasgesellschaft verheiratet, kommt nach einem ihrer seltenen freien Nachmittage nach Hause und findet ihre Schwester Dot mit dem Kopf im Gasherd vor. Kaum ist die Selbstmord vermutende Polizei aus dem Haus, tätschelt Ted Marjories Gesäß. Jetzt wird er „lästig“ denkt sie, und geht widerstrebend ins Badezimmer. „Sie ekelte sich zum Glück nicht vor den Verhütungsmethoden, sondern wandte sie mit kaltem Pragmatismus an.“
Forester hatte ein paar Semester Medizin studiert und war nach einer Kindheit in Kairo in einem Londoner Vorort aufgewachsen. Daher kannte er Reihenhaussiedlungen wie die der Familie Grainger in und auswendig: vier winzige Zimmer, Gasheizung, prügelnde Patriarchen, nebenan geiernde Nachbarinnen. Staunenswert: er schrieb darüber. Noch erstaunlicher: Forester, dessen maritimes Werk gerne mit Schlagworten „vom Kampf der men alone“ charakterisiert wird, schreibt aus der Perspektive Marjories.
TÖDLICHE OHNMACHT könnte von einer klarsichtigen, wütenden Feministin geschrieben sein. Alle Facetten ihrer Entmündigung zum weibliches Haustier werden grauenhaft plastisch. „Was sollen wir nur tun?“ Händeringend beschwört sie ein ums andere Mal ihre Hilflosigkeit. Dot war schwanger von Ted, Ted hat sie umgebracht, Marjorie kann ihn nicht anzeigen, was wird dann aus ihr und den Kindern? Was kann sie nur tun? Mrs Clair, ihre Mutter, weiß es. Und übt Rache. Fulminant.
Cecil Scott Forester: Tödliche Ohnmacht
Aus dem Englischen von Britta Mümmler
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 37 vom 5.9.2013; TÖDLICHE OHNMACHT stand auf der KrimiZeit-Bestenliste September bis November 2013