Bevor C.S. Forester mit seinem scheuen, seekranken und überhaupt körperlich etwas schwächlichen Käpt’n Hornblower den größten britischen Helden vor James Bond schuf, bevor er mit diesem man alone in See und in die großartige Vergangenheit von Trafalgar stieß, untersuchte er die familiäre und ökonomische Enge, in der einsame, unbefriedigte und vor allem ehrgeizeige Männer in lower-middle-class – Kleinfamilien lebten. Dabei fand Forester Existenzen in Fesseln und dafür die passende Form der Erzählung: den roman noir.
Man kann seine drei Kriminalromane Payment Deferred (1926), Plain Murder (1930) und Pursued (1935) als Untersuchungen darüber lesen, ob Mord als taugliche Methode der Befreiung aus engen Verhältnissen dienen kann. Das Ergebnis dieses literarischen Feldversuchs lautet aus der Sicht der Täter: nein, nein, ja.
Als das verschollene Pursued im letzten Jahr wieder auftauchte und auf Deutsch als Tödliche Rache erschien, war (nicht nur) ich ziemlich begeistert.
Jetzt liegt Plain Murder ebenfalls von Britta Mümmler übersetzt vor. In Gnadenlose Gier untersucht Forester, wie sich ein schlichter Angestellter bei gegebener Gelegenheit zu einem Mörder entwickelt.
Morris, Reddy und Oldroyd arbeiten in einer Londoner Werbeagentur. Als ihnen wegen Annahme von Bestechungsgeld die Kündigung droht, erschießen sie ihren Vorgesetzten, bevor er sie dem Chef melden kann. Mordanstifter und Schütze ist Morris. Reddy und Oldroyd finden sich von Morris übertölpelt als Komplizen wieder. Als Reddy droht, den bisher von der Polizei nicht verdächtigten Morris anzuzeigen, bringt Morris ihn ebenfalls um.
Die Kunst des Mordens
Foresters zweiter Kriminalroman trägt deutliche Züge des Versuchs. Forester (*1899) war ein junger Autor, der sich in verschiedenen Genres erprobte, bevor er sich 1937 mit seinem ersten Hornblower-Roman etablieren konnte. Zwischen Hogarth‘ moralischer Bilderfolge A Rake’s Progress und Thomas de Quinceys On Murder Considered as one of the Fine Arts angesiedelt beschreibt Forester die Entwicklungsstadien einer Mörderpersönlichkeit. Reflexive Passagen über die Bedingungen eines perfekten Mordes oder mögliche Gründe für Morris‘ zunehmende Hemmunglosigkeit unterbrechen den Gang der schlichten Handlung. Als der erste Mord folgenlos und unbemerkt gelingt, entwickelt Morris über mehrere Stadien ein wahnhaftes Selbstbewusstsein. Er fühlt sich unbesiegbar, situativ allen Herausforderungen gewachsen, als Künstler. „Inspiration“ überkommt ihn bei der Planung, und nach dem Mord verspürt er „unangenehme Übelkeit verbunden mit einem appetitlosen Hunger, die jeder kreative Künstler nach einem langen und produktiven Schaffensrausch kennenlernt.“ Oder: „Das Gefühl, ein perfektes Werk vollbracht zu haben, so perfekt, dass wieder Normalsterbliche noch künstlerisch Begabte dieses mit irgendeinem Vorschlag hätten verbessern können, ist wahrlich nur wenigen vergönnt.“
Gnadenlose Gier – ein antisemitischer Krimi?
Sei es Krawallmacherei oder schlampige Lektüre – gestützt auf die breite Materialbasis von zwei Textstellen (!) und die kühne Vermutung, Forester habe aus Minderwertigkeitsgefühl und Selbsthass geschrieben, kommt Wieland Freund zu der These, es handele sich bei Foresters Roman um Antisemitismus. Angeblich bedient Forester antisemitische Klischees, wenn er des Mörders Morris Hakennase, wulstige Lippen und dunklen Teint beschreibt: diese Merkmale verrieten „einen jüdischen Einschlag in seiner Ahnenreihe“. Bemerkenswert erstens: Morris weiß darum – und ist stolz auf sein Aussehen, ebenso wie auf seine Karriere, die – trotz der möglichen rassistischen Diskriminierung – gut vorankommt, auch dank seiner Mordkunst. Zweitens: Freund unterschlägt, dass die inkriminierte Passage eine Selbstbetrachtung des Mörders im Spiegel ist. Sinnvoll lässt sich das nur so verstehen, dass Morris seine Physis akzeptiert und einsetzt, um den sozialen Makel niedriger Bildung und möglicher Diskriminierung durch übersteigertes Selbstbewusstsein und die Selbstermächtigung zum Herrn über Leben und Tod zu kompensieren.
Wahn und Tapferkeit
Forester geht es nicht um Zuordnungen von Rasse, Aussehen und Verhalten, sondern um eine Phänotypologie des Mörders. Er beschreibt und erörtert dadurch versuchsweise die Ursachen für das, was „abgedroschene Worte wie ‚eine gnadenlose Gier nach Blut'“ zu fassen versuchen. „Mord um des Mordes willen ist außerordentlich sehen, doch Mord aus gänzlich unangemessenen Motiven kommt sehr viel häufiger vor.“ Diesem Unangemessenen forscht Forester nach, wenn er Morris als Egomanen, Wahnsinnigen, übersteigert Selbstsüchtigen, besessenen Künstler oder sogar als jemanden beschreibt, der „eine Art Trost“ sucht, „eine Erfüllung seiner unterdrückten Wünsche“. Der Erörterung, was den Charakter eines Verbrechers ausmache, ist das ganze 11. Kapitel, exakt in der Mitte des Buches gewidmet. „Das Gefühl der eigenen Überlegenheit, war deutlich ausgeprägt, und die weitere Enticklung tendierte unweigerlich zu einer Steigerung ins Unmäßige.“
Dem stehen Oldroyd und sein „nordenglisches langsam fließendes Blut gegenüber. Zwar ist er nicht helle, aber willensstark und tapfer, und mit der Gefahr wächst auch sein Scharfsinn – noch kein Hornblower, aber eine Vorausdeutung auf das gedämpfte soldatische Männlichkeitsideal, das Forester später besingen wird.
Oldroyds Zähblütigkeit ist eher aus dramaturgischen als aus anthropologisch-konzeptionellen Gründen Morris‘ Gegner. Nachdem der Phänotyp des egozentrischen Mörders verschiedene Stadien durchlaufen hat, stellt sich die Frage, wie er gefasst werden kann. Da die Polizei ihn nicht erkennt oder begreift, muss er von jemandem bekämpft werden, der absolut ander ist als er: Oldroyd tritt an.
Eher philologisch interessant
Forester erzählt das recht spannend, insgesamt ist dieser Roman aber eher ein erzählerischer Vorgriff auf die forensischen Klassifikationsysteme etwa eines Robert Hare und die Verhaltensforschungsabteilung des FBI.
Faszinierte Tödliche Rache als feministischer Noir avant la lettre, ist Gnadenlose Gier eher philologisch und literaturhistorisch interessant als Versuch eines psychologischen Erzählens, das nur am Rande die damals gängigen Krimi-Konventionen bedient, etwa mit der Frage nach dem perfekten Mord.
Plain Murder wurde 1964 schon einmal von Heinz F. Kliem ins Deutsche übersetzt. Es ging ihm wie Ross Thomas‘ Fette Ernte: Die deutsche Version Ein glatter Mord ist mit 157 Seiten auf deutsches Krimimaß zurechtgeschrumpft. Das Original hatte 216 Seiten, und damit ist wieder einmal die Neuübersetzung, in diesem Fall die Britta Mümmlers, als erste deutsche vollständige Ausgabe anzusehen. Gnadenlose Gier unterscheidet sich entsprechend vor allem durch Differenzierung und psychologischen Deatailreichtum vom gekürzten Erstling. Ist also auch besser geeignet, zu erkennen, dass Forester einen Beitrag zur Psychologie des Mörders und zur Alltagswelt der englischen lower middle class der dreißiger Jahre geleistet hat als zur antisemitischen Pest.
C.S. Forester: Gnadenlose Gier
Aus dem Englischen von Britta Mümmler
dtv, 256 Seiten