Das ist ein sehr deutsches Buch. Das bedeutet: Es ist ernsthaft, es ist politisch korrekt, und es ist brav. Man kann es als Schulbuch empfehlen.
Der Wald steht im Zentrum. Der deutsche Wald. Nicht nur im Titel, der an der Deutschen Lieblingslied erinnert. Einmal heißt es: „Manche Völker schauen aufs Meer. (..) Aber wir schauen in den Wald. So sind wir eben. Da kommen wir her und da gehen wir immer wieder hin.“ Bei Faunried steht er, ein „Märchenwald“. Und wie bei den Brüdern Grimm verbirgt er Grausiges. Man muss es nur richtig lesen. Das tut Anja. Sie ist Forststudentin und macht dort ein Praktikum. Ihr Nachname ist Grimm.
Im Dorf gibt es eine verschworene Gemeinschaft alter Männer. Sie beobachten, mit der Hilfe eines Kripobeamten, der auch ein Sohn eines der alten Männer ist, das Treiben der Praktikantin. Sie „liest den Wald wie keiner von uns.“ Das ist bedrohlich. Denn die alten Männer haben im Wald etwas versteckt.
Wir ahnen es bald. Denn Anja hat in diesem Dorf ihren Vater verloren, als sie acht Jahre alt war. Er kam vom Botanisieren nicht mehr zurück. Und nachdem Fleischhauer den topographischen Horizont etwas erweitert und offenbart hat, dass der Wald in der Nähe vom ehemaligen KZ Flossenbürg liegt, ahnen wir, worum es geht: Um NS-Verbrechen und ihr Verschweigen.
Es gibt beeindruckende Szenen in Schweigend steht der Wald. Die stärkste führt ins Dilemma. Ein junger Historiker – einsam auf weiter Flur – lässt Anja ihre Schuhe ausziehen und barfuß einige Meter über die scharfen Granitsteine den Weg gehen, den die KZ-Häftlinge täglich mit schweren Lasten nehmen mussten. Während der Historiker die begangenen Grausamkeiten des KZ-Alltags aufzählt, schweigt Anja: „Das weiß ich doch alles, dachte sie. Gar nichts weißt du, schrien indessen ihre Füße.“
Leider hat Fleischhauer das Buch mit dem Kopf und nicht mit den Füßen geschrieben. Vielleicht ist der Stoff zu groß.
Aber das Ergebnis ist, dass sich der Kriminalfall, der 1999 spielt, teilweise als Begleiterzählung zur Gedächtnispolitik von Flossenbürg liest. Der Leiter der KZ-Gedenkstätte hat sie als Bedeutungswandel beschrieben: Vom Stigma zum Standortfaktor.
Die alte Generation macht, was sie immer schon getan hat, 1945 und 1979, als sie den Vater von Anja umbrachte. Die alten Nazis halten den Deckel drauf, mit Gewalt. Und die jüngere Generation, die Kinder? Haben von nichts nichts gewusst. Und als sie dank Anjas Beharrlichkeit und Kunst des Waldlesens den Tatsachen nicht mehr ausweichen können, werden sie von Reue und Aufklärungswut befallen.
Aber warum? Mussten sie? Ist die Wahrheit allein so unausweichlich?
Ausgerechnet dem Marketingfachmann unter ihnen legt Fleischhauer den eingangs zitierten kulturwissenschaftlichen Wald-Unsinn in den Mund. Das ist weder glaubwürdig noch erzählt.
Im Handlungsverklauf gibt es viele Stellen, an denen Fleischhauer den versöhnlichen Weg des braven Realismus hätte verlassen können ins Unverbesserliche, Bittere. Nur einmal traut er sich. Da interpretiert der KZ-Historiker das Märchen von Hänsel und Gretel als Apologetik des Faschismus. Aber dann geht es zurück in den Wald.
Keine Frage: Von den Verbrechen der NS-Zeit und vom Umgang mit ihnen muss immer und immer wieder erzählt werden. Fleischhauer berichtet Erschütterndes. Aber er berichtet nur. Seine Figuren reagieren mit stummer Ohnmacht oder mit Schulaufsätzen.
Dieser Wald schweigt immer noch.
Wolfram Fleischhauer: Schweigend steht der Wald
Droemer 2013, 400 Seiten
Nordische Krimis
Was ist das Nordische an den Nordischen Krimis?
Im Interview mit der Kollegin Nina Peters für die Westdeutsche Zeitung haben sich dazu ein paar Gedanken herausgeschält:
Mit Leserwahrnehmungen wie „düster“, „melancholisch“, „blutrünstig“ kann ich nichts anfangen. Das kann nicht auf alle geschätzt 150 neuen Titel pro Jahr aus Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark, Island zutreffen. Zumal es darunter sehr witzige gibt.
Meine Thesen möglicherweise auch nicht.
- Als Wohlfahrtsstaaten am politischen Rande des Westens (Finnland, Norwegen) und geografischen Rand Europas haben die nordischen Länder eine verschärfte Wahrnehmung ausgebildet für das Prekäre der sozialen und ökonomischen Existenz, für die Probleme sozialer Isolation bzw. für die Notwendigkeit gemeinschaftlichen Zusammenhalts in einer menschenleeren Naturlandschaft mit kleinen Siedlungen und wenigen Zentren. Unbürokratische praktische Solidarität wird dort höher bewertet und ist notwendiger als in Zentraleuropa.
- Von der Mitte Europas aus lesen wir nordische Kriminalliteratur als Signale und Warnungen für die Gefährdung von Wohlstandsgesellschaften, die dort vielleicht schon erahnt werden und bei uns eintreten könnten.
- Die ausgesetzte geografische und politische Lage, die zeitweilige, unterschiedlich intensive politische Neutralität sowie die besondere Abhängigkeit vom Weltmarkt erfordern besondere Aufmerksamkeit für die Weltläufte. Daher von Ian Guillou über Leif Davidsen bis zu Arne Dahls opcop-Truppe immer wieder der Anlauf zu Kriminalromanen, die geopolitische Ortungen unternehmen. In Finnland hat die konfliktreiche Grenze zu Russland und der ehemaligen Sowjetunion einen spezifischen Typus Gangsterroman hervorgebracht, Prototyp der Karelier Viktor Kärppä in den Romanen Matti Rönkäs, der grenzübergreifend zwischen russischen und finnischen Gangstern seinen Schnitt sucht.
- Nicht spezifisch nordisch, aber verständlich weil marktkonform sind die Versuche von Autoren wie Jussi Adler-Olsen, Stieg Larsson, Jo Nesbø, Ilkka Remes, Leena Lehtolainen Krimis zu verfassen, die mit dem internationalen sprich anglo-amerikanischen Pageturner-Mainstream kompatibel sind. Gerade ihre auf Marktgängigkeit gebügelten Blockbuster werden bizarrerweise als Inkarnationen einer „skandinavischen Kriminalliterateratur“ angesehen, obwohl sie, von den Tatorten abgesehen, wenig Skandinavisches und viel global Amerikanisches haben.
- Die Vorstellung vom „Nordischen“ wird überstrapaziert, wenn man sie auf den Autor anwendet, der als einziger versucht hat, so etwas wie „nordische“ Kriminalromane zu schreiben: Håkan Nesser mit seinen zehn Van-de-Veeteren – Romanen, die in einem fiktiven, topografisch zwischen Holland und Mittelschweden changierenden Nordland spielen. Ganz Nesser sind die darin unternommenen Erkundungen menschlicher Existenz.
Singulär – nordisch oder nicht nordisch, das ist hier keine Frage – sind aus meiner Sicht
in Schweden:
in Finnland:
in Norwegen:
Recoil – weit verbreitet!?
Wie der Zufall es will, stieß ich bei einer Recherche zu Jim Thompson bei dem Archivar und Kenner Jan Christian Schmidt darauf, dass Thompson 1953 einen Roman unter dem Titel Recoil veröffentlicht hat. Deutsch hieß er Revanche (bei Diogenes) und Rückschlag (bei Ullstein). Damit nicht genug: Andy McNab schickt Agenten Stone unter Recoil in den Kongo, auf Deutsch hieß das Abrechnung. „An seiner Seite: die attraktive Silke.“
Wer kennt noch weitere Romane oder Krimis mit dem Titel?
Gibt es gute Regiokrimis? (1)
Ort und Zeit mal ernstgenommen: Uta-Maria Heim und Robert Hültner
Geschichte und Region – bis zum Erbrechen der Begriffe werden sie in „historischen“ und „Regio“-Krimis exploitiert. Die meisten literarischen Missgeburten mit diesen Etiketten handeln weder von Verbrechen, die aus der Geschichte entwickelt werden, in der sie spielen sollen, noch von den Regionen, in denen sie angesiedelt sind. Sondern von Kulissen und Klischees. Die meisten haben soviel mit Region oder Geschichte zu tun wie die Sandalenfilme Hollywoods mit der Antike. Nur sind sie meist noch langweiliger.
Deshalb kann man vor Freude in die Luft springen, wenn es mal Kriminalliteratur gibt, die historische Konflikte und geschichtliche Figuren in Sprache und Plot ernst nimmt und gestaltet. Autoren, die das können sind schon seit langem (und deshalb auch beide mehrfach ausgezeichnet) Uta-Maria Heim und Robert Hültner.
An ihren Büchern könnten die do-it-yourself-Schreiber lernen, wie Lesevergnügen entsteht aus dem Einlassen und Zuhören auf lokale Eigentümlichkeiten, Klangfarben, Denkweisen, wie Geschichte fremd und erlebbar zugleich wird durch Konflikte und Konfliktlösungen, die diesen Orten, diesem Menschenschlag zugehören und von Könnern zugeschrieben werden. Uta-Maria Heim, geboren im Schwarzwald, ansässig in Württemberg, gewinnt Luft aus dem Atem- und Dialektwechsel zwischen den Mikroklimazonen jener grundgesetzlich zusammengeschusterten Ländle. Ihr Fall – ein ehemaliger Polizeibeamter und verdeckter Ermittler wird mit einer Waffe erschossen, die aus dem Haus einer alten kommunistischen Familie veschwunden ist – ist eingebettet in einen verzwickten und durch Verschweigen wie Lügen, Erzählen und Erinnern durcheinander gewirbelten Schallraum. Weder den ermittelnden Polizisten noch dem Leser fällt die Orientierung leicht zwischen Gedenkdaten und politischen Linien, Verwandtschaftsbeziehungen und Rachesträngen, Politik und Privatem. Wespennest setzt die achtzehn Jahre zuvor in Das Rattenprinzip ungeklärt gebliebene Mord- und Totschlaggeschichte fort. Nazis und Antinazis, Reporter und Spione, Kommunisten und Kriegsverbrecher kommen hier vor, weil sie so und nicht anders am Ort sind: Miteinander verwandt, verfeindet, verhasst, verliebt, auch wenn der eine sechzehn Jahre in Kuba untertaucht und die andere im elterlichen Bauernhof.
Region als Chaos, als undurchdingbare Undichte – herrlich.
Heims Wespennest spielt heute und findet die Ursachen der mörderisch ausgetragenen Konflikte in Krieg- und Nachkriegszeit, in den RAF-Jahren und den Verwerfungen der Wiedervereinigung.
Roberts Hültners Inspektor Kajetan kehrt zurück ist ohne Zeitverweis nach vorn oder zurück fest situiert im Jahr 1928. Auch dieser Roman lebt von genauestem Hinschauen und Zuhören, präziser Einfühlsamkeit und Kenntnis der lokalen Gegebenheiten. Ex-Polizist-Kajetan landet auf der Flucht vor einer Fatwa der Nazis, die bereits die Münchner Politische Polizei kontrollieren, im Grenzland. Dort will er mit Hilfe von alten Bauerngenossen und Bergführern übers Hochgebirge emigrieren, wird aber in den Mord an einem lokalen Hotelier und die Flucht eines braven Kommunisten verwickelt, dem ein Spitzelmord angehängt werden soll.
Wie in den anderen Kajetan-Romanen entfaltet Hültner – Region gleich Rechtlosigkeit – die Verwerfungen zwischen alter und neu aufziehender Gewaltherrschaft, zartem demokratisch-rechsstaatlichem Denken Einzelner und brutalem Opportunismus zu einem Sozial- und Sittengemälde bayrischer Zustände und bayrischer Menschen. Ihre Lebendigkeit lässt verstehen, warum die Sehnsucht nach Regionalkrimis so groß ist.
Hültner widerspricht in seinem großartigen Realismus jedem Klischee: Nicht nur die Bayern sollten sich freuen, dass ihnen einer den weiß-blauen Himmel wegzieht. Denn gute Krimis sind nicht albern und schönfärberisch, sondern schwarz und realistisch. In Krisenzeiten erst recht.
Auszug aus einem Beitrag für das Börsenblatt 14/2009
Mord/Das Wüten der Moderne im Ohr
Am 16. Januar startet der „Radio Tatort“. Die ARD schreibt Hörfunk- und vielleicht auch Krimigeschichte
„Dell-ill-ill-ill — Dell-ill-ill-ill“. Ein Telefon klingelt. Der Hörer wird abgehoben. Eine männliche Stimme meldet sich geschäftsmäßig: „Suttner, LKA Düsseldorf.“ So wird Hörfunkgeschichte geschrieben: Neunmal wird am 16. Januar 2008 das Telefon klingeln, beinahe zeitgleich zwischen 20.05 und 22.00 Uhr und in allen Bundesländern. Neunmal wird sich Rudolf Kowalski als „Suttner, LKA Düsseldorf“ melden. Das hat es seit langem nicht mehr gegeben: Alle Landesrundfunkanstalten der ARD senden zur gleichen Zeit ein und dasselbe Hörspiel. Der Radio Tatort ist geboren. Natürlich ist es kein Zufall, sondern lässig präsentierte Absicht, dass der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung sich als „Fischer, LKA Magdeburg“ vorstellt. Von ferne erinnert das an jene andere Rundfunksensation, als 1970 der allererste Fernseh-Tatort mit Hauptkommissar Trimmel im „Taxi nach Leipzig“ fuhr.
Kulturpolitisch ein Wunder
Doch was heute lebenspraktisch leicht ist, ein Telefonat zwischen Arbeitskollegen in Magdeburg und Düsseldorf, ist hörfunkpolitisch immer noch ein kleines Wunder. Nur während der Buchmessen