Sieben Titel sind neu: Zwei aus Deutschland und je einer aus Japan, Spanien, Australien, Nigeria, Frankreich. Die Schauplätze: Tokyo, Präfektur L, Welt, digitale Welt, Wien, Griechenland, London, England, Bilbao, Glasgow, New York, New Jersey, Lagos, München, westfranzösische Hafenstadt.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit drei Jahren und drei Monaten. Und über den kollaboratorischen Imperialismus aus dem Weißen Haus ebenso.

Wieder zwei neue Autoren aus Deutschland: ein Sci-fi-Meister und eine Debütantin. Und an der Spitze eine japanische Text-Zeichnungs-Mischung, die es in sich hat.
Neu auf Platz Eins im Mai:
1 HEN NA E Seltsame Bilder (変な絵)
In Japan ist Uketsu ein Star. Er tritt in Youtube ganz in Schwarz auf, mit einer weißen Maske aus Pappmaché und generiert dort mit surrealen Filmen und 1,7 Mio Usern ein Millioneneinkommen. Uketsu ist ein Pseudonym und bedeutet Regenloch. Er (dass er männlich ist, scheint festzustehen) hat zwei Kriminalromane geschrieben, in deren Text er Zeichnungen integriert hat, deren Sinn seine Figuren enträsteln müssen. HEN NA E Seltsame Bilder ist sein zweiter Roman, der erste heißt HEN NA IE (Das seltsame Haus), soll schwieriger sein und wird deshalb später übersetzt.
Die Welt ist aus dem Häuschen.

Ich bin skeptischer. Denn auf den ersten Blick ist HEN NA E Seltsame Bilder ein traditioneller Rätselkrimi, wie ihn die Japaner in Verehrung von Agatha Christie so lieben. Was ihn besonders macht, sind seine Zeichnungen. Einige sind von Kindern verfertigt, wie diese:

Sie müssen entschlüsselt werden, denn:
»Wir Erwachsenen können ›reale Dinge‹ zeichnen, die wir mit unseren Augen sehen. Kinder jedoch zeichnen das ›Bild‹, das in ihren Köpfen entsteht.« [fett im Original, der Romansatz liebt fett hervorgehobenen Text]
Eine andere Sorte von Zeichnungen könnte man als eine Art Infografik bezeichnen: Sie illustrieren, wie schon die Krimis des „Goldenen Zeitalters“ oder noch ältere, einen Tatort oder den Zeitplan einer Bergwanderung. Die müssen nicht entschlüsselt weruden, vielmehr dienen sie dem besseren Verständnis der komplizierten Abläufe.
Über diesen Roman kann gestritten werden.
Hanspeter Eggenberger in seinem Blog und Katrin Doerksen in der FAZ (Bezahlschranke) sind entzückt. Hauptargumente neben der Verwendung der Seltsamen Bilder sind die verzwickte Erzählform in vier in Handlung und Personal unterschiedlichen Kapiteln, und besonders die Behandlung von Tabuthemen der ziemlich abgeschotteten japanischen Gesellschaft: psychische wie physische häusliche Gewalt, Kindesmissbrauch, entartete Mutterliebe, Suizid, Neid auf Höherrangige.
Ich finde, Uktesu hat das alles raffiniert gemacht, und die Verwendung der Zeichnungen als symbolischer Ausdruck verletzter oder verstörter Kinderseelen ist klug eingesetzt. Aber das – in Japan hat man aus seinen zwei Büchern gleich das Sub-Genre „Sketch-Mystery“ gemacht – täuscht darüber hinweg, dass den Schwarz-Weiß-Zeichnungen leider eine Schwarz-Weiß-Psychologie entspricht.
Achtung Spoileralarm!
Zu Beginn wird einem Mädchen, das seine Mutter getötet hat, unterstellt, seine Seele habe auch eine verborgene gute Seite. Nachdem sich diese Interpretation nach einer Serie von Morden als grundlegend falsch herausgestellt hat, heißt es in archaischer Dichotomie: es handle sich doch um eine „mörderische Seele“.
Spoileralarm aus!
Der Rätsel Lösung ist also nicht die Aufdeckung tabuisierter Gewaltverhältnisse (die übrigens sehr comichaft und in schlichter Sprache skizziert sind), sondern die Entlarvung einer bösen Person, mit der man nicht gerechnet hat. Auch wenn die Entlarvung nicht in einem geschlossenen Raum mit zehn Verdächtigen stattfindet – Agatha und der Detection Club lassen grüßen.
Lesen sie auch Kolja Mensings Rezension vom 2. Mai 2025.
Außerdem neu auf der Krimibestenliste Mai:
4 Thanatopia
Wer die vorausgegangenen Romane HOLOGRAMMATICA und QUBE gelesen hat, weiß, dass Menschen, die die technischen und pekuniären Mittel dazu haben, ihr Gehirn, quasi sich selbst, in die Körper Verstorbener oder Getöter hochladen können und eine befristete Zeit in dieser Verkörperung ihrer selbst tun und lassen können, was sie wollen. (Wie diese euphemistisch „Gefäße“ genannten Zweit-, Dritt- oder Viertkörper beschafft werden, bleibt tunlichst verborgen.) Also auch Verbrechen begehen – oder getötet werden.
Solche gleichartigen Klone zieht Kommissar Landauer gleich doppelt aus der blauen Donau und muss nun dem auf die Sprünge kommen, was die Erfindungen eines dritten Bandes in Tom Hillenbrands HOLOGRAMATICA-Serie rechtfertigt.
Sogenannten Deathern ist es nämlich mit sehr fortgeschrittener KI gelungen, durch Selbstmord in jenen Schattenbereich vorzustoßen, der zwischen dem physischen Exitus und dem tatsächlich Absterben der Seele siedelt. Christen nannten diesen Bereich Hölle oder Himmel, die Deather nennen ihn wie die alten Griechen Kimmerien.
Nicht nur in dieses Schattenreich, sondern auch in noch ganz andere Welten, in denen nämlich ewiges Leben möglich scheint, stößt Hillenbrands unerschöpfliche Phantasie vor. So dass der Verlagswerbetext mit Recht fragen kann: „Wenn Menschen dank künstlicher Intelligenz ewig leben können – werden sie es auch wollen?“
Wundersam verknüpft der „fantastische Realist“ Hillenbrand in THANATOPIA bis an die physIkalischen und technischen Grenzen weitergedachte Science-Fiction mit philosopischen Fragen und harter Detektivarbeit, die nicht nur von übergewichtigen 75jährigen Wiener Kommissaren, sondern auch von bereits aus den Vorläufern bekannten Quants geleistet wird. Was das ist, erläutert ein kleines Lexikon. Noch mehr zu empfehlen: die Lektüre aller drei Bände.
5 Wenn das Wasser steigt (Esperando al diluvio)
Dass es bis heute nicht gelungen ist, die Identität des mangels anderer Indizien „Bible John“ genannten Serienmörders zu entschlüsseln, ruft immer wieder ehrgeizige Autorinnen und Autoren auf den Plan, die ihre Version der Lösung entwerfen.
Angeregt von Ian Rankins DAS SOUVENIR DES MÖRDERS (Black and Blue, 1993) stellt sich Dolores Redondo vor, Inspector Noah Scott Sherrington, vertraut mit den modernen FBI-Theorien über Serienmörder, ein Profiler der ersten Stunde, würde ermitteln, dass der lange von ihm gesuchte Bible John ein gewisser John Clyde sei, würde ihn verfolgen und an dem See, wo er die Leichen seiner Opfer verbuddelt hat, stellen. In dem Moment, wo Noah John schnappt, erleidet er einen Herzinfarkt, John flieht, und Noah wird nur durch Zufall gerettet. Er schließt, das John per Schiff nach Bilbao geflohen ist und folgt ihm, im Bewusstsein, wegen einer angeborenen Herzinsuffizienz jederzeit tot umfallen zu können.
WENN DAS WASSER STEIGT – sprechender ist der Originaltitel „Warten auf die Sintflut“ – verwandelt sich in ein langes Katz- und Mausspiel in Bilbao. Kunstvoll schlingert die Erzählung zwischen lebensbedrohlichen Herzattacken (berührend: der vierzigjährige Noah lernt eine tolle Frau kennen und traut sich nicht, sie zu lieben, weil er einen Infarkt riskiert), neuen Freundschaften des Inspectors und weiteren Morden samt ihrer Vertuschung durch John. Auf einer anderen Ebene, betitelt „Der Junge“, rekonstruiert Redondo eine plausible Psychogeschichte des Serienmörders, der von mehreren Frauen religiös und sexuell manipuliert worden ist.
Ganz im Kontrast zu Uketsu heißt es bei Redondo: „John war kein Monster.“ Tolles Buch. Meiner erster, bestimmt nicht der letzte Roman von ihr, den ich lesen werde.
7 Devil’s Kitchen
Candice Fox, 1980 in New South Wales geboren, ist schon seit längerem eine weltweit anerkannte Top-Thriller-Autorin. Im Unterschied zu Lee Child, mit dem man sie, was Spannungn, Tempo und Action betrifft, vergleichen kann, setzt sie nicht auf eine Serienfigur, sondern auf ein Muster. Das lautet: Toughe Frau in wüst männlicher Umklammerung.
DEVIL’S KITCHEN erinnert mich in vieler Hinsicht an ihren ersten Roman HADES. Darin sitzt ein extrem erratischer, despotischer, mörderischer Mann auf einer Müllkippe bei Sydney. Diesem Hades ähnelt der Chief der Feuerwehr-Einheit Engine 99, die in New York Brände legt, um die Räume hinter und im Feuer auszurauben.
Auch dieser Matthew ist unerbittlich hart, hat aber eine schwache Stelle: Er setzt ständig neue Kinder mit neuen Frauen in die Welt. Auch die anderen Mitglieder der Crew haben ihre Schwachstellen, an denen die scheinbar aus Teflon geschaffene Agentin Andy Nearland ansetzen kann. Sie arbeitet frei für das FBI, ihre Achillesfersen sind ein eifersüchtiger Führungsoffizier und ihr Mitleid mit verfolgten Frauen. Das reizt sie besonders bei dem riskanten Unternehmen, als im Schnellkurs ausgebildete Feuerwehrfrau die räuberische Bande zu unterwandern. Ben, einer von ihnen, sucht nämlich verzweifelt nach der Frau und ihrem Sohn, die er in sein Herz geschlossen hat.
Drama tonnenweise, aber die Kombination von Feuerwehrheldentum, Räuberei und bösartigem Machotum macht DEVIL’S KITCHEN zur verdammt heißen Kochstelle.
8 Spur des Geldes (When Trouble Sleeps)
Leye Adenle ist 1975 in Nigeria geboren, stammt aus einer adligen Familie, die schon einige andere Schriftsteller hervorgebracht hat. Er lebt in London – all das Hanspeter Eggenberger herausgefunden.
Adenle kennt sich aus mit den politischen Machenschaften seines Heimatlandes. Der erste Roman seiner Trilogie um die Frauenrechtlerin und Anwältin Amaka ZÜGEL DER MACHT atmete den wilden Geruch des Erstlings. Im Vergleich dazu ist der zweite Band SPUR DES GELDES klarer konstruiert, weniger auf Empörung und Effekt hin geschrieben.
Doch gleich zu Beginn lenkt ein eifersüchtiger Pilot seine Maschine mörderisch wie selbstmörderisch in die Villa des vom alten Patriarchen protegierten Kandidaten für den Gouverneursposten von Lagos. Der ernennt seinen Schwiegersohn zum neuen Kandidaten. Nicht wissend, dass Amaka, die unzerstörbare, unbeirrbare Heldin Adenles diesem sexbesessenen Ojo bei einem vorgetäuschten Beischlaf Videodokumente entwendet hat, auf denen er den Mord an einer Sexarbeiterin und den sexuellen Missbrauch von Kindern dokumentiert hat. Diese Beweise können die anstehende Wahl entscheiden. Auf der einen Seite Korruption, Geldkoffer, bestochene Polizisten, bezahlte Schlägerbanden, auf der anderen ein Inspector, der Amaka durch dick und dünn unterstützt sowie erstaunlicherweise ein Mann des Geheimdienstes, der für die liberalen Guten eintritt. So weit ein etwas plakativer, zweiter zorniger Band.
Mich hat etwas anderes mit Wut erfüllt: Der verdienstvoll interkulturell aktivistische Verlag InterKontinental kann leider keine Bücher machen. Für den stolzen Preis von 24,50 Euro darf man ein anständig gebundenes Buch erwarten, und nicht eines, das man mit dem Nudelholz bearbeiten muss, um darin blättern zu können.
Über das den Lesefluss zertrümmernde schematische Gendern habe ich schon in meinem Blog vom September 2024 geschimpft. Dass dieser Schematismus gekoppelt ist mit Denkfaulheit (Passagier*innen schreibt sich leicher als einen geschlechtergerechten lesbaren Sprachstil zu entwickeln), zeigt sich an einer für die Handlung marginalen, für die Genderwachsamkeit aber entlarvenden Stelle. Man müsste meinen, dass ein so LGBTQIA-bewusstes Lektorat darüber stolpern würde, wenn ein Transvestit mit einer Transperson verwechselt wird. Auch das Gendern will gelernt sein.
9 Riot Girl
Die urspünglich Berliner Forensikerin Obalski ist noch fremd in München, wird aber gleich vom LKA ins Jugendamt eingeschleust, um dort möglichst Kontakt zu den Mädchen zu finden, die als „Influenzas“ über Instagram und Tiktok zu immer gewagteren und gefährlichen Challenges aufrufen. Das LKA sieht sie als potentiell terroristische Gefahr, Obalski sympathisiert hingegen immer stärker mit ihren Zielpersonen, weil sie diese im Widerstand gegen Männergewalt begreift.
So tauchen bei ihren Ermittlungen in der Welt der sehr verschlossenen Mädchen Hurtcore-Videos auf, in denen Alpha-Männer Teenagerinnen quälen. (Das erinnert starkt an die mörderischen Entspannungsspiele, die der perverse Psychiater Penrose gelangweilten Managern in JG Ballards SUPER-CANNES verordnet.)
Susanne Kaisers Debüt RIOT GIRL lebt von dem unkonventionellen Zugang, dem Erwachsenen weitgehend fremden Jugend-Milieu und der tollen Hauptfigur, die professionell, einfühlsam und selbstbewusst agiert. Marcus Müntefering resümiert in seiner (Bezahlschranke!) Spiegel-Rezension über „eine der wichtigsten Neuerscheinungen des Literaturfrühlings“:
„Es ist diese Empathie für die Opfer, die Kaisers Roman so beeindruckend macht. RIOT GIRL wird komplett aus der Perspektive der Ermittlerin Obalski erzählt, der Leser wird direkt mit ihren Emotionen konfrontiert, mit ihrem Unglauben, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung und mit ihren Zweifeln daran, wer hier eigentlich Opfer und wer Täter ist.“
10 Die letzte Französin (La petite gauloise)
Jérôme Leroy, 1964 in Rouen geboren, ist seit seinem ersten ins Deutsche übersetzten Roman DER BLOCK Stammgast auf der Krimibestenliste. In seinen Kriminalromanen attackiert er den Patriotischen Block (damit ist erkennbar das Rassemblement Nationale gemeint) und seine ideologischen Komplizen im rechten Milieu Frankreichs. Die letzte Französin ist sein bisher konzentriertester Angriff, bei dem nebenbei auch die Linksliberalen ihr Fett abbekommen. Hier mein Kommentar zur Bestenliste Mai:
Hafen in Westfrankreich. Tumber Polizist erschießt nicht-weißen Geheimagenten. In der vom Patriotischen Block regierten Stadt löst das Gefechte zwischen Islamisten und Staatsgewalt aus. Die Schullesung einer Jugendbuchautorin wird zum Massaker. Frankreich, wie Leroy es sieht: 100 Seiten Chaos, Gewalt, Ideologie, Wahnsinn.
Wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE MAI?
Die KRIMIBESTENLISTE MAI ist seit Freitag, dem 2. Mai 2025, auf Deutschlandfunk Kultur online. Ein zweiseitiges PDF kann dort heruntergeladen werden. Ein einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen gibt es auf meinem Blog Recoil sowie das Archiv aller Krimibestenlisten seit 2005.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, rezensiert. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 2. Mai hat Kolja Mensing über die Nummer Eins der Krimibestenliste im Mai HEN NA E Seltsame Bilder gesprochen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Mai nebst hochinteressanten Rezensionen nicht nur zu den Titeln der Krimibestenliste.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen spannende Lektüre und schöne Frühlingstage!
Hamburg, Anfang Mai
Ihr Tobias Gohlis