John le Carré singt in seinem 23. Roman das Hohelied des aufrechten Whistleblowers
Mit dem Verrat läuft es wie mit der Liebe. Manchmal schlittert man einfach hinein. Man tut einen kleinen Schritt und noch einen, und selbst in der Rückschau lässt sich der Augenblick nicht immer genau bestimmen, in dem es vorbei war mit der Unschuld, man zum Verräter wurde oder total verliebt war.
Auch Toby Bell, 31, Karrierediplomat und einer der Helden in John le Carrés jüngstem Roman EMPFINDLICHE WAHRHEIT, weiß nicht genau, ob und wann er zum Verräter wurde.
War es, als er seinem Chef, dem Staatsminister, ein Aufnahmegerät ins Büro praktizierte, um zu belauschen, was dieser Geheimnisvolles mit den obskuren Amerikanern Crispin und Miss Maisie zu besprechen hatte? Wurde er zum Abtrünnigen, als er das Tonband gegen alle Sicherheitsvorschriften aus dem Ministerium schmuggelte? Oder ist er gar kein Verräter? Sondern wird nur als solcher behandelt?
John le Carré, 82 Jahre jung, ist in dieser Frage ganz klar. Für ihn ist Toby Bell „jene meistgefürchtete Kreatur unserer heutigen Welt: ein unabhängiger Entscheider.“
Zunächst war Toby nur neugierig. Was steckte hinter der überdurchschnittlichen Geheimnistuerei seines Chefs? Als er – illoyal gegenüber dem Boss zwar, aber geleitet von einer Art höherem Misstrauen – weiter den Umtrieben nachspürte, die dieser so intensiv zu verbergen suchte, fand er Erstaunliches. Mit der Begründung, die britischen Geheimdienste und andere Spezialeinheiten seien zu schlaff, hatte der Staatsminister sich unterderhand mit einem amerikanischen Unternehmen der Sicherheitsindustrie zusammengetan, um Terroristen zu jagen.
Die belauschten Amerikaner Miss Maisie und Crispin entpuppen sich als Führungsspitze des von le Carré karikaturistisch „Ethical Outcome“ genannten Privatfirma. Die Resultate der Public-private-Partnership sind nicht ethisch einwandfrei, sondern so verheerend, dass sie komplett unter den Tisch gekehrt werden müssen. Le Carré enthüllt sie in mehreren chronologisch vor und zurück springenden Erzählsträngen. Zum misstrauischen Tony Bell gesellt er Christopher Probyn, genannt Kit, einen hohen Beamten des Außenministeriums im Ruhestand. Dieser war vor Jahren als Kontaktmann des Staatsminsters nach Gibraltar zu einer geheimen Nacht- und Nebelaktion abgeordnet worden. Ohne wirklich zu verstehen, was vor seinen Augen ablief, war Kit zum „schuldigen Zuschauer“ geworden. Das versteht er aber erst, als ihn Jahre später ein Soldat aufsucht, der in diese Aktion „Wildlife“ involviert war und ihm berichtet, dass dabei eine Muslima und ihr kleines Kind erschossen wurden.
Kit und Toby tun sich zusammen und was der Anstand verlangt. Sie wenden sich an die Vorgesetzten, sie verfassen Memoranden und legen dar. Sie handeln als aufrechte Beamte. Und wissen nicht, dass sie längst verraten sind. Von einer Regierung, die Recht, Anstand und Sicherheit privatem Gewinnstreben übereignet hat. Wie Tobys und Kits Demarchen ausgehen, wie es diesen tapferen Whistleblowern ergeht, das lassen Sie sich von Meister John le Carré am besten selbst zu Ende erzählen.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 3 vom 9.1.2014
John le Carré: Empfindlich Wahrheit (original 2013: „A Delicate Truth“)
Aus dem Englischen von Sabine Roth
Ullstein, Berlin 2013, 400 Seiten
EMPFINDLICHE WAHRHEIT startete auf der Krimibestenliste Dezember 2013