John le Carrés SILVERVIEW ist heiter, ironisch und grundsätzlich: Finger weg von Geheimdiensten
Was wird eigentlich aus den Geheimnissen, wenn die Geheimnisträger sterben? Das ist eine der Fragen, die der im Dezember 2020 verstobene John le Carré in „Silverview“ stellt. Zu Beginn überbringt eine junge Frau äußerst widerwillig dem Chef der Spionageabwehr einen Brief ihrer im Sterben liegenden Mutter. Welch wichtige Botschaft genau darin steht, erfahren wir nicht, überhaupt bleibt vieles im Dunkeln.
John le Carré, einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, enthüllt keine Geheimnisse mehr – nicht einmal mehr, wie in seinen früheren Romanen, die Intrigen, Machenschaften und Methoden der Geheimdienste, die Rückschlüsse erlaubten auf ihr verborgenes, zumeist unmoralisches Treiben.
Damit entzieht le Carré, wie Thomas Wörtche festgestellt hat, in seinem letzten Roman so trickreich wie (selbst-)kritisch der Spionageliteratur eine wesentliche Sinnebene: Uns Außenstehenden wenigstens mit den Mitteln der Fiktion etwas davon zu erzählen, was im Geheimen angeblich in unserem Auftrag geschieht.
Wie schon in seinem vorausgegangenen Roman FEDERBALL setzt le Carré auf die Jugend, erzählt SILVERVIEW zum großen Teil aus ihrem Blickwinkel. Unwillig, aber den Geheimdienstregeln ihrer Mutter treu, einer alten Nahostagentin, überbringt die alleinerziehende Lily den Brief. Naiv – er kennt nicht einmal den großen Schriftsteller W.G. Sebald! – lässt sich der wohlhabende Jungbuchhändler Julian vom alten Agenten Edward in dessen undurchschaubare Projekte verwickeln. Und Edward ist nicht zufällig Ehemann der Briefschreiberin und Lilys Vater.
Zwar lösen Brief und Buchhandelsprojekte hektische Aktivitäten auf Seiten der Spionageabwehr aus. Aber die Suche nach Lecks, Maulwürfen und Verrätern führt nur in abgelegte Vergangenheiten: erloschene Liebschaften, eingemottete Atombunker, modrige Loyalitäten. In diesem von seinem Schriftstellersohn Nick Cornwell fertig polierten Roman hinterlässt John le Carré seinen aufmerksamen Lesern einen Kassiber. Seine Botschaft lautet: Macht‘s wie die jungen Leute Lily und Julian. Seid höflich und hilfsbereit zu den alten Knackern, aber lasst die Finger von deren Scheiß. Diese Botschaft ist wie immer bei le Carré verklausuliert in wunderbare Dialoge und herrlich falsche Fährten, garniert mit altersweiser ironischer Heiterkeit.
Dieser Artikel wurde zuerst am 5.11. bei Deutschlandfunk Kultur veröffentlicht. SILVERVIEW war der höchste Neueinstieg auf der Krimibestenliste November 2021.
John le Carré: Silverview
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Ullstein Verlag, Berlin 2021, 252 Seiten