Un-su Kim über Unwissenheit und Wut, Einsamkeit, die Quellen des Schreibens und die Harmonie deutscher Autobahnen.
Das erste lange Interview des koreanischen Autors auf Deutsch
Un-su Kim, geboren 1972 in Busan, ist vielleicht der spannendste einer ganzen Zahl hervorragender und faszinierender Autorinnen und Autoren aus Südkorea, die in den letzten Jahren übersetzt wurden. Unter ihnen: Jeong Yu-jeong und Kim Young-ha, dessen Verlag Cass im Oktober 2020 mit dem Preis der Hotlist der Unabhängigen Verlage ausgezeichnet wurde.
Kim ist nicht nur ein toller Schreiber, sondern auch sonst ein ziemlich wilder Typ, wie ich auf der Buchmesse 2018 erfahren durfte. Kim sprang bei einem Dinner seiner amerikanischen Agentin unter hochrangigen koreanischen Diplomaten herum wie ein Clown; Begründung: der Ernst soll den Büchern vorbehalten bleiben, Parties sind Parties. Da er sich Namen nicht merken wollte, nannte er mich den Abend über „Santa Claus” – wir verstanden uns prächtig.
Da die beiden von ihm auf Deutsch erschienen Bücher aus dem Englischen bzw. Französischen übersetzt sind, wollte ich unbedingt seine originale Stimme wenigstens in direkter Übersetzung vernehmen, und es gelang, sehr kurzfristig mit der tollen Unterstützung der Verlegerin Ki-Hyang Lee per E-Mail ein deutsch-koreanisch-deutsches Interview zu führen. Dessen kurze Fassung (etwa 12%) ist in der ZEIT am 2.11.20 erschienen. Auch die Fassung, die ich hier veröffentliche, ist noch leicht gekürzt.
Un-su Kim schreibt seit 30 Jahren, lässt aber erst vier Werke gelten. Die Novelle The Cabinet von 2006 führt in eine geschlossene postmoderne Welt, in einen Schrank voller Geschichten, dessen und deren Erzähler 178 Tage damit verbringt, nur Dosenbier zu trinken. 2010 erschien Die Plotter mit einem suizidalen Auftragsmörder als Protagonist. Das war Kim internationaler Durchbruch. 2013 veröffentlichte er eine Sammlung mit Kriminalgeschichten, 2016 erschien Heißes Blut, ein Gangster-Epos aus dem fiktiven Slum Guam an der Küste des Hafenorts Busan. 2021 soll mit Big Eye die so genannte „Abscheu-Trilogie” abgeschlossen werden, auf die dann eine Mitgefühl- (Compassion-) Trilogie folgen soll.
Sie haben bisher drei Romane und eine Sammlung mit Erzählungen veröffentlicht. Die Plotter wurden in 20 Sprachen übersetzt und die Filmrechte verkauft. Betrachten Sie sich, im Alter von 48, als erfolgreich? Sind Sie dort angekommen, wo Sie hinwollten?
Auf keinen Fall! Ich bin noch lange nicht am gewünschten Ziel angekommen. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass ich unbedingt berühmter werden und mehr Geld verdienen muss. Ich wohne auf dem Land und kann mit meiner Frau mit sehr geringen Lebenserhaltungskosten ein reichhaltiges und glückliches Leben führen. Aber der Ort, den ich wirklich erreichen möchte, ist ein Dasein in andauernder Verbundenheit und beständigem Bewusstsein.
Verbundenheit ist hier der Zustand, in dem das Subjekt und ich vollständig eins sind. Im Osten verwendet man dazu die Formulierung „Der Geist wird eins mit der Natur (oder allen Arten von Objekten).” Der konfuzianische Gelehrte Toegye, dessen Konterfei eine koreanische Banknote ziert, sagte in Bezug auf das Verbundenheitsprinzip ganz simpel: „Ich denke nur ans Essen, während ich esse. Wenn ich mich ankleide, konzentriere ich mich nur aufs Ankleiden. Und ich vermische die Dinge nicht.”
Was mich betrifft, so hoffe ich, dass ich, wenn schon nicht in jedem Moment, so doch zumindest beim Schreiben wach sein kann. Ich träume davon, direkt in den Roman einzutauchen und eins mit dem Protagonisten zu werden, anstatt gleichsam nur Randnotizen der Geschichte zu skizzieren. Das ist aber schwieriger, als man meint. Der Geist springt andauernd herum wie ein wildes Pferd, im Bedauern über Vergangenes und voller Sorgen um die Zukunft, das tägliche Leben ist voll von allerlei Wirrwarr und dem daraus resultierenden Gefühlschaos. Das verhindert die Verbundenheit zwischen mir als Schriftsteller und dem Roman. Ich versuche also, mein Leben sehr einfach und ruhig zu gestalten.
Sie haben in Seoul Koreanische Literatur studiert, aber schon vor dem Studium und dem Militärdienst mit 16 Jahren begonnen zu schreiben. Was hat Ihnen am meisten geholfen, Schriftsteller zu werden – das Lesen anderer Schriftsteller, das Leben oder das Studium an der Universität?
Dass ich zu schreiben begann, beruht auf einem winzigen Ereignis. Es war im März 1988, und ich war gerade auf die High School gekommen. In der Pause starrte ich geistesabwesend auf einen Füller, den ein Klassenkamerad vor mir in der Hand hielt. Es war ein silberner Füllfederhalter von Parker, und er sah großartig aus. Ich fragte meinen Mitschüler, ob ich seinen Füller ausprobieren dürfe. Bereitwillig lieh er ihn mir. Ich nahm ihn, öffnete mein Heft und schrieb etwas, ohne nachzudenken. Als ich die erste Silbe zu Papier brachte, war ich fasziniert von dem Gefühl und der dicken schwarzen Tinte, die aus der Feder quoll. Die Tinte floss sanft aus der Spitze und blieb eine Weile auf der Papieroberfläche. Dabei glänzte sie im Licht einer Leuchtstofflampe, bevor sie in das Papier eindrang und die Buchstaben bildete. Die geschriebene Silbe, die sich mit einer leichten Wölbung aus dem Papier erhob, wirkte in gewisser Weise wie eine Skulptur. Wie eine missglückte Vergangenheit, die sich nun unumkehrbar verfestigte, schien sie eine unveränderliche Form zu haben.
In diesem Moment überkam mich eine enorme Ruhe, die ich immer noch nicht verstehen kann, und deren ausgelöste Empfindung ich nur schwer zu erklären vermag. Es war, als gäbe es im ganzen Universum nur noch den Füllfederhalter, die Tinte, das Papier und die Buchstaben. Die Füllfederhalterspitze gab ein schabendes Geräusch von sich, während sie über die Seite strich. Aus der Feder austretende Tinte sickerte in das Papier ein und hinterließ eine Aufzeichnung des Alterns wie ein Tattoo in der Haut. Ich betrachtete es weiter. Ich schrieb einen Satz, der nicht viel bedeutete, änderte ein Adjektiv und schrieb den gleichen Satz erneut. Ich schrieb über den Himmel vor dem Fenster des Klassenzimmers, über eine Wolke in Form einer Herde, über einen schwarzen Vogel, der in die Wolke eintaucht und dann wieder erscheint.
Als die Schulglocke läutete, bat mich der Schüler, den Füller zurückzugeben. Während ich ihm den Stift aushändigte, beschloss ich aus heiterem Himmel, Schriftsteller zu werden.
Ich ging zum Bupyeong-Kkangtong-Markt in Busan und kaufte einen Füllfederhalter und Tinte, die so dunkel war wie Rohöl. Und seitdem schrieb ich, wann immer ich Zeit fand, etwas in das Heft. Wenn ich darüber nachdenke, glaube ich, meine Liebe galt nicht der Literatur selbst, sondern dem Akt des Schreibens.
Das ist genaugenommen der Anfang meines Schreibens und macht es insgesamt aus. Ich bin ständig auf der Suche nach intensiver Ruhe und nach der Ekstase des Augenblicks, von Momenten, die voll und ganz mit dem Gegenstand verbunden sind, wie ich es als Sechzehnjähriger in dieser Pause erlebt hatte.
Als ich fünfundzwanzig war, ging ich an die Universität, um ernsthaft Literatur zu studieren, aber ich konnte in den Vorlesungen und Seminaren selbst nicht viel Sinn entdecken. Die Kurse empfand ich als eine Einöde nutzloser Theorien und Thesen. Wenn ich ehrlich bin, hat mich das Studium der Literaturwissenschaft negativ beeinflusst.
Ich bin auch überzeugt, dass es an den zahlreichen Lehrmeinungen und Theorien lag, dass ich über zehn Jahre lang in einer Schaffenskrise steckte. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, scheint es mir, als hätte ich die Bedeutung und den wirklichen Wert von Dingen wie Rhythmus, Spannung, Gleichgewicht und Harmonie, die ich ursprünglich beherrscht hatte, nicht verstehen können, ohne durch das Ödland dieser nutzlosen Theorien und Ansichten zu gehen.
Sie haben begonnen wie fast alle Schriftsteller, mit Poesie. Warum sind Sie – zumindest öffentlich – zur Prosa gewechselt?
Ich schreibe keine Gedichte mehr. Ich habe kein Talent dafür. Gedichte werden von Menschen geschrieben, die sich in höheren Sphären bewegen als ich, die edlere und empfindlichere Antennen haben als ich. Das ist nicht spöttisch gemeint, so denke ich wirklich.
Ich gab die Poesie mit Mitte zwanzig auf und schrieb nur spaßeshalber eine Kurzgeschichte.
Ab wann konnten Sie sich ganz aufs Schreiben konzentrieren?
Ich darf wohl als der seltsame und erbärmliche Fall eines Autors gelten, dessen Fokussierung und Leidenschaft im Laufe der Zeit immer mehr litten und allmählich auf einen Tiefstand fielen. Am schlimmsten war es zehn Jahre nach meinem Debüt als Schriftsteller.
Anfang vierzig hatte ich eine gefährliche Operation, bei der ein Halswirbelknochen entfernt wurde, weil er in das Nervenzentrum eindrang, und ich musste sechs Monate lang das Bett hüten. Es war eine heikle Zeit, den ganzen Tag an die Decke zu starren, weil ich meinen Körper nicht bewegen konnte. In diesem heißen Sommer, als die Zikaden unaufhörlich schluchzten, lag ich da und sah stundenlang zur Decke hoch, und plötzlich wurde mir klar, warum meine Werke so unaufrichtig waren und warum mir das Schreiben, das ich als Kind so sehr genossen hatte, zur Hölle wurde.
Ich hatte nämlich die Verbindung verloren. Wie eine Schamanin, die den Zugang zu ihrem Gott verloren hat, verschwand die übernatürliche Kraft und übrig blieb nur der sinnentleerte Tanz, in dem ich mich wand. In der Folgezeit nach dieser Operation hatte ich das Gefühl, allmählich zu dem Jungen zurückzukehren, dem in jungen Jahren ein Füller das Herz hatte aufgehen lassen. Mit anderen Worten, ich hatte einen Knochen im Nacken verloren und stattdessen die Verbindung zum Schreiben gewonnen.
Aber die alten Vorstellungen und Gewohnheiten haften immer noch an meinen Fußgelenken, so dass ich nur schleppend vorankomme.
Zuvor haben Sie versucht, das Geldverdienen und das Schreiben unter einen Hut zu bringen. In welchen Jobs haben Sie Lebenserfahrung (und Geld) gesammelt?
Ich habe als Installateur gearbeitet, als Arbeiter in einer Fabrik, die Funkgeräte für Schiffe herstellt, als Klempner, als Kellner in einem Nachtclub, als Dozent an einem Privatinstitut (für das Schreiben von Aufsätzen), als Verlagsangestellter, in Kneipen und manchmal als Lektor in der Filmbranche, sowie in anderen vergleichbaren Jobs. Bis vor wenigen Jahren konnte ich mit dem Romanschreiben nicht genug für den Lebensunterhalt verdienen. Wenn das Geld knapp wurde, musste ich rausgehen und irgendetwas tun. Damals dachte ich, dass ich ein äußerst jämmerliches Leben habe.
Von meinem Vater erbte ich Schulden anstelle von Haus oder Geld, und dem jungen Mann stellten sich diese Schulden als ein hoher und unbezwingbarer Berg dar. Meine Jugend war wie ein langer Kampf gegen Armut und Schulden.
Aber wenn ich Romane schrieb, fragte ich mich selbst, wo aus meinem Kopf diese Charaktere herausgesprungen kamen. Mit einem Mal begriff ich, dass viele der Figuren aus meinen Romanen auf Menschen zurückgingen, die mir in meinen verschieden Jobs begegnet waren. Und ihre Beschäftigungen entsprachen all den vielen Tätigkeiten, mit denen ich mich über Wasser gehalten hatte.
Erst als Sie aufs Land gezogen sind, haben Sie die Ruhe zum Schreiben gefunden. Was bedeutet Ihnen, dem Stadtmenschen, das Landleben?
Ich lebe in Jinhae, einer kleinen Küstenstadt im Süden. In der Tat kann ich sagen, dass dieses Städtchen mich gerettet hat. Wäre ich in Seoul geblieben, wäre ich verkümmert. Der ruhige, langsame Rhythmus hier passt sehr gut zu mir. Jeder Mensch hat seinen eigenen Maßstab für die Welt, in der er leben und lieben kann. Wenn Sokrates sagte, du sollst dich selbst erkennen, meint er, dass du das Farbspektrum kennen sollst, in dem deine Seele strahlt, und den Rhythmus, in dem sie schwingt. Das Volumen meiner Seele ist sehr klein. Der Durchmesser der Lebenssphäre, den ich ertragen kann, ist auch sehr klein.
Als ich jung war, hatte ich einen großen Traum, aber für mein jetziges Ich sind die Dimensionen auf dem Land genau richtig. Um ehrlich zu sein, ist das Leben selbst in dieser Größe noch überwältigend, weil ich nicht genug Liebe und Hingabe bieten kann.
In einem Interview sagen Sie, lange Zeit hätten Sie auf einem mittelmäßigen Level geschrieben. Was meinen Sie mit „mittelmäßig“ und was konnten Sie seitdem verbessern?
Mittelmäßigkeit ergibt sich aus nicht wahrheitsgetreuem oder irreführendem Schreiben. Sie besteht aus bewussten Phrasen, in denen übertriebene Gedanken gewaltsam miteinander verwoben werden, um die eigene Botschaft oder das eigene Thema zu vermitteln. Es ist, als wäre das Leben weg, nur Mitteilungen bleiben zurück.
Das Wesentliche des Daseins ist in jedem Moment lebendige Erfahrung, weder Botschaft noch Sujet. Niemand lebt, um nur Botschaften zu vermitteln. Auch die Essenz eines Romans besteht letztlich in Erfahrung. Egal, ob Sie Leser sind oder Schriftsteller, Romane geben uns die Möglichkeit, selbst für eine kurze Zeit zum Protagonisten der Geschichte zu werden und ein Leben, das völlig anders ist als das eigene, wie real mitzubekommen. Das ist alles. Wenn ein Autor diese Essenz vergisst und nur mit den Gedanken ringt, gerät er in einen Sumpf der Qualen. Wie Insekten auf einer Wassermelone, die die Schale nicht durchdringen und nur an der Oberfläche lecken können, wird er unter dem Schreiben leiden, ohne zum Kern zu gelangen. Ich habe über ein Jahrzehnt lang, also von Anfang dreißig bis vierzig, elf Bücher geschrieben. Fast alle musste ich in den Müll werfen.
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