Was reizt den ehemaligen Lyriker Un-su Kim an der Welt des Verbrechens und der Verbrecher?
Ich bin in einem Flüchtlingsdorf geboren und aufgewachsen, in den ärmsten Slums in Busan. Das waren Siedlungen entlang der Sanbok Road in den Vierteln Nammin-dong, Gamcheon, Songdo und Yeongdo in Busan und ganz typisch für den Koreakrieg. Und Guam in Heißes Blut entspricht dem fast bis ins Detail.
Das Flüchtlingsdorf existiert noch heute. Die Strände von Busan haben sich mittlerweile zu Touristenstätten von Weltniveau entwickelt, die Sanierung ist entsprechend vorangeschritten, und es scheint, als habe sich ihre äußere Form stark verändert. Trotzdem gibt es tagsüber eine Tagwelt und nachts eine Nachtwelt. Und das ist eine vertraute Landschaft.

Im Gegensatz zu den fiktiven Räumen von Das Kabinett und Die Plotter, die ich aus meiner Fantasie konstruiert habe, hat das Dorf in Heißes Blut diesen ganz realen Hintergrund. Das war eine recht lustig-bunte Nachbarschaft, in der Schläger, Mörder, Gangster, Prostituierte, Betrüger und Diebe neben Pastoren, Priestern und Nonnen lebten. In den Augen des kleinen Jungen, der ich damals war, erschienen die Kriminellen mit ihren Messern und Ganzkörpertätowierungen wie Wesen von einem anderen Stern. Da sie in dem Haus vor uns oder direkt nebenan wohnten, benutzten sie den gleichen Wasserhahn und den gleichen Abort. Durch dieses Zusammenleben mit ihnen lernte ich, dass sie nette, humorvolle und freundliche Leute waren. Das nicht aufgesetzt, es waren einfach normale Onkel aus der Nachbarschaft. Doch eines Tages erschienen diese Onkel im Zuge von Säuberungen im kriminellen Milieu in den Zeitungen und wanderten wegen Mordes, Körperverletzung und dergleichen ins Gefängnis. Das brachte mich zum Nachdenken: Was ist der Mensch? Wie viele Gesichter sind in ihm verborgen?
In Heißes Blut ist der Konflikt der zwischen dem ortsansässigen traditionellen Gangster Vater Son und dem „härteren“ Kriegsflüchtling aus dem Norden Doyen Nam von zentraler Bedeutung. Entspricht dies der konkreten Realität in Korea oder ist es mehr eine Wertung: die aus dem Norden, die mehr Fremdheitserfahrungen gemacht haben, sind aggressiver?
Gebürtige Nordkoreaner, die in Südkorea aufgewachsen sind, wie Doyen Nam unterscheiden sich stark von Nordkoreanern, die erst spät aus Nordkorea geflohen sind. Denn erstere sind Vertriebene, die vor der Teilung oder noch während des Koreakrieges nach Süden gekommen sind. Sie wurden in der koreanischen Gesellschaft nicht diskriminiert. Sie stehen dem nordkoreanischen Regime eher feindselig gegenüber, weil die Kommunisten ihnen häufig das gesamte Vermögen weggenommen haben.
Unter den vielen Wirtschafts-Konglomeraten, die die Industrialisierung und Modernisierung in Korea vorangetrieben haben, kommen viele aus Nordkorea. Menschen aus dem Norden haben mehr von dem harten Blut der nördlichen Nomaden, was sie hart, stark und lebensfähig macht.
Insbesondere geht es um einen bestimmten Ehrenkodex unter Gangstern. Gibt es ihn auch in der Realität – oder ist das eher metaphorisch zu lesen?
So wie es in jedem Gefängnis eigene spezielle Regeln unter den Gefangenen gibt, gelten auch strenge Regeln in der Unterwelt. Und wo es eine andere Ordnung gibt, existiert ein anderer Moralkodex (ein auf seine Weise sehr ernster Moralkodex). Als ich Kellner im Nachtklub war, war ich überrascht zu erfahren, dass in der chaotisch wirkenden Nachtwelt sehr genaue und strenge Tributleistungen und Zahlungsmethoden existieren, ebenso wie Belohnungen und Bestrafungen. In der Welt der Gesetzlosigkeit, festigen sich nach einer Zeit des Chaos mit Hauen und Stechen eigene Ordnungsstrukturen, wie die Naturgesetze nach dem Urknall. Weil die Betreffenden – wie alle anderen auch – nicht für immer kämpfen können und am Ende mit Gegebenheiten leben müssen, die sie hassen.
Das Problem ist, dass die eigene Ordnung in kriminellen Organisationen und die Ordnung der normalen Gesellschaft sehr unterschiedlich sind.
Am Beispiel der Yakuza-Organisation in Japan kann man ableiten, dass die Yakuza intern ihrer eigenen Ordnung gehorcht, nach außen hin aber die Politik verfolgt, sich der allgemeinen Ordnung der Zivilgesellschaft unterzuordnen. Gemäß den Gesetzen der Yakuza ist es erlaubt, sich untereinander mit Schusswaffen zu bekämpfen, aber es ist absolut tabu, auf normale Bürger zu schießen. Das ist nicht recht, aber ein Kompromiss. Wie auch immer, es ist derzeit unmöglich, die kriminellen Banden vollständig loszuwerden, und wir müssen einen Weg finden, mit ihnen zu leben.
Im Hintergrund von Die Plotter und Heißes Blut wird koreanische Geschichte, mit oft recht präzisen historischen Angaben, erzählt.
Ja, die Handlung in meinen Romanen ist oft übertrieben oder verdreht die Tatsachen, aber natürlich liegen dem Ganzen auch reale Geschichten der koreanischen Gesellschaft zugrunde. Tatsächlich finden Attentate wie in Die Plotter vor entsprechendem Hintergrund zu allen Zeiten in der Vergangenheit und auch jetzt in allen Ländern der Welt statt. Sie werden jedoch als Unfall, Selbstmord oder natürlicher Tod getarnt oder die ganze Angelegenheit wird vertuscht und kommt gar nicht erst an die Oberfläche.
Und die Umstände der Zeit, mit denen die Verbrecher in Heißes Blut konfrontiert werden, sind real. In Korea gab es dreißig Jahre lang eine Militärdiktatur, und die Diktatoren statuierten gern Exempel in Schauprozessen, bei denen sie kriminelle Banden auslöschten, um die fragile Legitimität ihres Regimes zu verbergen. Nach dem Motto: „Wir sind nicht so böse Jungs. Hier sind schlimmere Gesellen. “ Etwas in der Art eben.
Halten Sie die Wiedervereinigung Koreas für möglich? Wird das in Ihrer Generation geschehen?
Ich denke, dass in unserer Generation eine Vereinigung stattfinden kann. Dies geschieht dann jedoch aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen, nicht weil das gesamte koreanische Volk eine Reife der Wahrnehmung wie etwa Empathie entwickelt. Wie auch immer, nachdem die formale Vereinigung an erster Stelle steht, werden wir Tugenden für das Zusammenleben wie eben Empathie zu einem sehr hohen Preis lernen. Hat Deutschland nach der Vereinigung nicht eine ähnliche Situation erlebt?
Inwieweit limitieren gesellschaftliche Grenzen die Entfaltung einer reichen männlichen/weiblichen Gefühlswelt?
Angesichts der vielen Aussagen mit sozialem Bezug in koreanischen Zeitungen scheint es, dass die Rechte der Frauen in Korea noch nicht so ausgereift sind wie in Europa. Die ‚Me Too‘-Bewegung war in den letzten Jahren aktiv, ein Präsidentschaftskandidat kam wegen sexueller Belästigung seiner Sekretärin ins Gefängnis, und ein Bürgermeister von Seoul beging kürzlich Selbstmord. Um jedoch das von der Zivilgesellschaft gewünschte Maß an Frauenrechten zu erreichen, müssen die Bürger Koreas noch einen langen schmerzhaften Weg beschreiten. Dies bedeutet nicht, dass koreanische Männer immer noch ihre patriarchalische Autorität innehaben.
Die patriarchalische Autorität koreanischer Männer ist schon vor langer Zeit zusammengebrochen, zugleich sind die Frauenrechte noch nicht weit genug entwickelt, um die Zustimmung der Zivilgesellschaft zu erhalten. Es fühlt sich an wie eine Schaukel. Wenn man die eine Seite nach unten drückt, steigt die andere an, und umgekehrt. Ich weiß nicht, wie man die Schwankungen effektiv reduzieren kann, um sie friedlich und harmonisch zu gestalten. Wie alle Dinge in diesem Universum unterliegt auch das dem Schmetterlingseffekt der Chaostheorie und alles bedingt sich auf komplexe Weise gegenseitig. Dennoch glaube ich, dass die wellenartigen Schwankungen entsprechend der Natur der Dinge irgendwann in einen stabilen Zustand münden.
In Heißes Blut findet Huisu keine Möglichkeit, seine Liebe zu der beinahe einzigen weiblichen Figur des Romans, zu Insuk, auszudrücken. Er scheint in einem Panzer von männlichen Vorurteilen, patriarchalen Schranken und sozialer Diskriminierung gefangen. Umgekehrt sieht sich Insuk als Dienerin ihres Mannes und ist glücklich, wenn sie ihm die gebügelten Hemden hinlegen kann. Ist dieses – aus deutscher Sicht – sehr patriarchale, an strikte Rollenmuster fixierte Modell von Beziehung weit verbreitet in Korea?
Ihre Beobachtung, dass Huisu in männlichen Vorurteilen, patriarchalischen Barrieren und sozialer Diskriminierung gefangen ist, ist zutreffend. Der Hintergrund dieses Romans reicht von den frühen 70ern bis zu den frühen 90ern, und zu dieser Zeit bestanden koreanische Männer noch hartnäckig auf solch einem Rollenverständnis. Und nur wegen dieser Ausprägung von Männlichkeit, die in dieser Dummheit gefangen ist, konnte Huisu zum Protagonisten werden.
Aber es ist nicht so, dass Insuk den patriarchalischen Werten zustimmt oder sich als Dienstmädchen für ihren Ehemann betrachtet. Insuk ist vielmehr eine weise Frau, die versteht, wie man Männer täuscht und sie benutzt. Während die meisten Kerle in Heißes Blut wie großgewachsene, muskulöse Kinder erscheinen, so repräsentiert Insuk einen Charakter, der kühl und weise versteht, mit solchen Kindern auf seine eigene Weise umzugehen. Insuk tut einfach das, was die Männer brauchen. „Bügelst du gerne Hemden?” „Ich werde deine Hemden bügeln. Was ist so schwierig daran, ein Hemd zu bügeln?” So in etwa.
Es ist genau wie der Haupttrick meiner Frau, wenn sie mich wie ein Kind behandelt.
Insuk ist die Gewinnerin unter den gegebenen Bedingungen. Selbst in einer Zeit, in der Kinder verhungerten, zieht sie in ihrem Teenageralter als Haupternährerin der Familie ihre sieben jüngeren Geschwister auf, schickt sie an die Schule und bereitet ihnen den Weg für einen gewissen sozialen Aufstieg, während Huisu zur gleichen Zeit ins Gefängnis ging, trank, spielte und Schulden anhäufte. Im Ganoven-Milieu einer von Machos dominierten Hafenstadt in den 70er und 80er Jahren, ist das, was Insuk erreicht, an der Grenze des Möglichen. Insuk empfindet für alle Kriminellen in Guam Geringschätzung. Und gleichzeitig versteht sie es, ruhig ihre eigenen Berechnungen anzustellen. Ihr einziges Dilemma besteht darin, dass ihr Sohn Ami, dem sie nie mit kühler Vernunft begegnen kann, selbst zu den Gangstern gehört. Daher wird sie in diesen schicksalhaften Abgrund gerissen.
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