Die Plotter und Ihr neues, noch nicht erschienenes Buch Big Eye werden/wurden zuerst in täglichen Folgen in einem WebMagazin publiziert. Mir kommt dieses Balzac-ähnliche Tempo wie ein krasser Widerspruch zu der Kontemplation und Ruhe vor, die Sie auf dem Lande gesucht haben. Oder habe ich etwas falsch verstanden in Ihrem Arbeitsprozess? Denn in dem selben Interview erzählen Sie, dass Sie von morgens 3 Uhr bis mittags schreiben, danach entspannen und früh – gegen 9 Uhr – ins Bett gehen. Schreiben sie Ihre Bücher zweimal?
Ja, ich beginne normalerweise um 3:00 Uhr morgens und schreibe nur bis Mittag. Nein, ich schreibe nicht zweimal.
Solange man als Schriftsteller mit ganzem Bewusstsein in den Roman eintauchen kann, ist zügiges Vorankommen überhaupt kein Problem. Die Herausforderung besteht tatsächlich in diesem vollständigen Eintauchen, das sich als weit kniffliger und schwieriger erweist, als man meinen könnte. Und noch schwieriger ist es, diesen Zustand aufrechtzuerhalten.
In meinem Fall beträgt die tatsächliche Zeit des Schreibens bei einem Roman, dessen Entstehungszeit sich über vier Jahre hinzieht, nur vier oder fünf Monate. Die restliche Zeit verbringe ich mit dem Kampf, mich in den Roman hineinzuversetzen.
Wenn ich es richtig verstanden habe, müssten dieser Tage die letzten Seite Ihres neuen Romans Big Eye im Web zu lesen sein.
Mit Big Eye habe ich aufgehört, nachdem etwa 250 Seiten in Fortsetzung erschienen waren. Nun schreibe ich alles noch einmal von Anfang an neu. Einfach ausgedrückt ist der Roman misslungen. Wie ich bereits erwähnte, lässt sich sagen, dass ich mich in den Roman nicht vollständig hineinversetzt habe. Genaugenommen gehe ich immer rein und komme raus, ohne Erfolg. Aber das ist in Ordnung. Das Gute an einem Roman ist, dass man im Gegensatz zum echten Leben selbst ein bereits ruiniertes Leben immer wieder neu beginnen kann. Big Eye werde ich wahrscheinlich in diesem Winter oder dem nächsten Frühling beenden.
Mit dem Roman Big Eye, den Sie 2021 beenden wollen, wäre dann Ihre „Abscheu-Trilogie“ abgeschlossen. In einem Interview habe ich gelesen, dass es darin um Protagonisten geht, die lernen, eine „versöhnliche Perspektive“ zu sich und ihrer Welt zu entwickeln. Ist das auch Ihr persönlicher Entwicklungsweg – von Abscheu zum Mitgefühl?
Ich bezeichne sie als Abscheu-Trilogie, weil diese Romane von Menschen erzählen, die sich selbst und die Welt, in der sie leben, verachten. Die Kernfrage dieser Romane ist: „Wie soll ein Wesen, das sich selbst verachtet und von der Welt, in der es sich befindet, angewidert ist, sein Leben bestreiten?
Der Killer Raeseng aus Die Plotter begeht Selbstmord, weil er auf ein nächstes Leben hofft, und Huisu, der Gangster von Heißes Blut, entzieht seinem Körper warmes Blut und infundiert kaltes Blut in seine Gefäße, um diese kaltblütige Welt zu ertragen. Aber sind dies wirklich die richtigen Antworten?
Die Hauptperson aus Big Eye, dem letzten Teil der Trilogie, woran ich gerade schreibe, ist ein Mann namens Su-Re, was so viel bedeutet wie ‚der schwer Beladene‘. Su-Re ist Enkel von Gu Hak-zin, einem pro-japanischen Koreaner in der Kolonialzeit, der für seine industrielle Ausbeutung von Goldminen berühmt war und zugleich ein bösartiger Kredithai mit dem Spitznamen Devil No. 2 wie auch ein schlauer Schmuggler war. Er war vor allem ein intriganter Investor in die Fischindustrie, wodurch er Seeleute für seinen Vorteil ausnutzte.
Wie Raeseng verabscheut auch Su-Re die Welt, und wie Huisu verachtet er sich selbst. Wenn es einen Unterschied zu den anderen beiden Protagonisten gibt, dann wohl den, dass er eher bei sich selbst nach Gründen für seine Wut über sich selbst und die Welt sucht, anstatt woanders. Er begeht keinen Selbstmord und bereitet sein Blut auch nicht durch Transfusionen von Reptilienblut auf. Stattdessen erträgt er die erniedrigende Lebensweise, die ihm aufgezwungen wurde, und versucht aufmerksam zu hinterfragen, woher diese Wut und dieser Abscheu kommen.
Ein Reporter fragte einmal bei einem Besuch den Dalai Lama: „Sehen Sie sich diese schreckliche Welt an mit der großen Schere zwischen Arm und Reich, den Kriegen und dem Hunger, der Gewalt und all dem Morden. Wie kann man über diese abscheuliche Welt nicht wütend sein? Warum ist die Welt so?“
Darauf entgegnet der Dalai-Lama mit strahlendem Lächeln, als würde er einen Witz erzählen: „Es liegt an Ihrer Unwissenheit.“
Vielleicht war die Abscheu, die ich in jungen Jahren gegenüber dieser Welt empfand, auch auf meine Unwissenheit zurückzuführen. Wir hassen uns selbst, weil wir nichts wissen, und weil wir nichts wissen, sind wir wütend auf diese Welt. Aber ich bin immer noch unwissend. In Big Eye bin ich auf der Suche nach Unwissenheit als Quelle von Abscheu und Wut.
Der Sufi-Dichter Jalal al Din Rumi sang: „Gestern war ich klug und wollte die Welt verändern. Heute bin ich weise und verändere mich.“
In Die Plotter und in Heißes Blut sind die Protagonisten einsame Männer, deren Einsamkeit zunimmt und die sich nach einem starken Vater sehnen. Beide sind Waisenkinder. Was bedeutet das – für Sie/in der koreanischen Kultur – ohne Eltern und mit einem prekären, möglicherweise unbekannten Stammbaum aufzuwachsen?
In den Geschichten geht es um Vaterkomplexe und auch um eine Art Waisenbewusstsein, das die Existenz des Vaters leugnet. Und in der koreanischen Gesellschaft ist die Abwesenheit von Vätern sowohl abstraktes Symbol als auch hat sie einen ganz konkreten Bezug zur Wirklichkeit.
Man kann sagen, dass die koreanische Gesellschaft, die in den letzten 100 Jahren turbulente Zeiten durchgemacht hat, die Kolonialisierung durch Japan, die Befreiung und den Koreakrieg, die Teilung, die Militärdiktatur und die Demokratisierung, ebenfalls einen Vater verloren hat.
Zuvor, während der Joseon-Dynastie, galt der Konfuzianismus als Leitkultur. In diesen 500 Jahren war durch die herrschenden Ideologie und die patriarchalischen Ordnung die Tür zur Welt verschlossen. Dieser Vater war schwach und unterwürfig, und die Wirklichkeit der Menschen bestand immer aus Armut. Die Joseon-Dynastie hielt am Vater, dem Konfuzianismus, ganz fest, bis das Land schließlich zur Kolonie und dann durch die Großmächte geteilt wurde. Tatsächlich ist Korea in den nächsten hundert Jahren zu einer Wettkampfarena für unzählige Ideologien wie Kommunismus, Kapitalismus, Demokratie, Nationalismus, Pro-Amerikanismus, Pro-Russismus, Pro-Japanismus und dergleichen verkommen, die alle behaupten, Väter zu sein. Ist es nicht so, dass das Zeitalter der schwachen Väter vorbei und jetzt das Zeitalter der falschen Väter angebrochen ist? Wenn nicht, sollte man nicht sagen, dass es zu viele falsche Väter gibt, um einen richtigen zu finden?
Genau wie in vielen anderen Ländern Asiens, in deren Traditionen verloren gingen und wo die Modernisierung im westlichen Stil rasch voranschritt, leiden alle koreanischen Söhne unter dieser Abwesenheit eines Vaters, beziehungsweise dem Bewusstsein, Waise zu sein. Aber auch Waisenkinder werden erwachsen und schließlich zu Vätern. Huisu und Raeseng stehen jetzt an der Schranke, hinter der sie selbst Väter werden müssen. Vor dem Eintritt in die Welt der Väter, erschien den Söhnen alles klar dichotomisch geteilt in gut und böse, wahr und falsch oder schön und hässlich. Es gab klare Ziele, was es zu bekämpfen galt und worüber man in Zorn geraten musste. Beim Übergang in die Welt der Väter aber, erkennen sie, wie kompliziert und traurig das Chaos und der Schmutz in dieser Welt miteinander verflochten sind, und sie sind verwirrt. Das ist es, was Vater Son in Heißes Blut sagt: „Niemand ist böse auf der Welt, weil er böse sein will.“
In meiner Rezension von Die Plotter habe ich einen Vergleich zu den Filmen von Jean-Pierre Melville gezogen, besonders zu „Le Samourai“, der als Inbegriff der Einsamkeit des modernen (westlichen) Mannes rezipiert wurde. Sehen Sie Raeseng als koreanische Variante Alain Delons? Oder gibt es eine spezifisch koreanische Tradition – in Film oder Literatur – des einsamen Killers?
Ich weiß nicht. Ist es diese Art von Einsamkeit? Ich denke, die Einsamkeit und das Alleisein von Raeseng in dem Roman Die Plotter unterscheidet sich ein wenig von der unterkühlten Einsamkeit im Film. Wenn ich der Einsamkeit Raesengs unbedingt einen Namen geben müsste, so wäre dies eine kleinbürgerliche Einsamkeit.
Es mag einige dramatische Übertreibungen im Roman geben, aber die meisten modernen Menschen erleben die gleiche Einsamkeit wie Raeseng. Derzeit ist ein Drittel der Bevölkerung Seouls ledig. Sie essen allein, schauen Filme alleine, trinken alleine in einem Café Cappuccino, nehmen allein in einer Bar ihren Drink. Die Art der Einsamkeit, unter der Raeseng leidet, ist wahrscheinlich etwas Alltägliches.
Allein zu sein ist bequem und bedeutet Freiheit, aber auch Einsamkeit. Also gehen wir raus. Aber die Welt ist widerspenstig – die Hölle, das sind die anderen. Also kehrt dieser einsame und verletzte Mensch leer in seine eigene Höhle zurück. Und er ist wieder allein. Es ist angenehm, allein zu sein. Aber bald ist er wieder einsam. Raeseng erlebt wahrscheinlich diese Art von Einsamkeit.
Sind der Preis des wirtschaftlichen, politischen Erfolgs Vereinsamung und soziale Deformation wie bei Huisu, dem Protagonisten in Heißes Blut?
Der Preis für politischen und sozialen Erfolg muss nicht zwangsläufig zu Deformationen führen. Aber wenn jemand von schnellem Erfolg träumt, kann er nicht in Harmonie mit Familie, Freunden oder anderen Dingen, die er behalten möchte, wachsen.
Huisu in Heißes Blut ist so ein Fall. Er ist in der Vergangenheit gescheitert und versucht nun glücklich zu werden, indem er möglichst schnell etwas schafft. Sein Blut kocht und das Herz sehnt sich.
Aber wir können die beiden Kaninchen der Harmonie und des Erfolgs nicht gleichzeitig fangen.
Tatsächlich leidet die koreanische Gesellschaft auch unter ähnlichen Schmerzen. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war Korea das ärmste Land der Welt mit einem niedrigeren Bruttoinlandsprodukt als der größte Teil Afrikas. Und seitdem ist es auch das am schnellsten wachsende Land der Welt. Aber unter dieser Geschwindigkeit verbergen sich harter Wettbewerb und starker Druck. Dies hat den Vorteil, dass es die Energie und das Potenzial der Bevölkerung maximiert, zum Beispiel in Form von Kreativität und Dynamik, zugleich jedoch diejenigen verletzt und betrogen werden, die bei dem Tempo nicht mithalten können und die Veränderungen, die sich daraus ergeben, nicht hinnehmen können. Viele Katastrophen und Konflikte werden natürlich Lateralschäden dieser Geschwindigkeit bleiben. Und die koreanische Gesellschaft wird für dieses schnelle Wachstum noch lange in Raten bezahlen müssen.
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