In einem Interview kritisieren Sie, dass CrimeFiction in Korea als minderwertige Literatur angesehen wird. Ändert sich etwas in der Wertschätzung von Crimefiction – auch durch Ihre Bücher, die sowohl internationales Ansehen als auch koreanische Literaturpreise gewonnen haben?
Koreas Mainstream-Literaturszene leistet hartnäckigen Widerstand gegen Kriminalromane und ähnliche Genre-Literatur. Aber die koreanische Filmindustrie liebt das Gangster-Sujet. Es gab eine Zeit, in der Ganovenfilme sehr beliebt wurden. Diese sind jedoch meistens Kriminalkomödien. Das Publikum ist immer begeistert von lustigen Geschichten. Aber das Niveau an Unterhaltung, welches die koreanischen Leser verlangen, ist erheblich gestiegen.
Egal, ob es sich um einen Kriminalroman oder einen Film handelt, um ein anspruchsvolleres Publikum zu erreichen, muss die Handlung sorgfältig gestrickt sein und ein beträchtliches Maß an philosophischem Gehalt bieten.
Fantasy, Thriller, Horror, Science-Fiction-Romane usw., die so genannte Genre-Literatur, war in der Vergangenheit bei koreanischen Lesern immer beliebt und so ist es auch heute. Nur rein klassische Literaturmagazine oder Zeitungen behandeln sie nicht so.
Der Wind des Wandels begann auch in der reinen koreanischen Literatur zu wehen. Derzeit verschwimmen die Grenzen zwischen Genre- und purer Literatur, übernimmt das eine die Stärken des anderen. Solche Änderungen sind immer angenehm. Der Wind der Veränderung kann jedoch nicht durch mich aufgefrischt haben.
Gibt es literarische oder andere Vorbilder?
Es gibt kein besonderes Vorbild. Um genau zu sein, versuche ich lieber, mich dahingehend zu trainieren, alle Vorbilder abzustreifen. Im gleichen Atemzug bemühe ich mich auch, in allem ein Vorbild zu sehen, sei es ein Schmetterling, ein Bettler oder ein Kaiser.
Der tantrische Buddhismus hat eine besondere Meditationsmethode, bei der man sich bewusst zu etwas anderem wandelt. Über Monate und Jahre hinweg betrachtet man dann das Abbild eines Gottes und projiziert sich vermittels seiner Vorstellungskraft auf diese Gottheit. Sobald das Bewusstsein des Meditierenden sein Ego aufzugeben und ein anderes Wesen anzunehmen vermag, kann er nicht nur das Abbild Gottes, sondern auch alles andere werden.
Der wesentliche Kern dieser Meditationstechnik besteht darin, die Illusion dessen, was wir für unser Selbst halten, zu zerbrechen, um die Realität der Welt zu sehen. Überraschenderweise bietet diese Art der Meditation recht nützliche und praktische Hilfe für das Schreiben von Romanen. Denn wenn ein Schriftsteller diese Technik lernt, kann er alles werden, egal was.
Wenn ich lange konzentriert die Welt eines Romans betrachte, an dem ich arbeite, verlässt mein Bewusstsein manchmal die Realität und taucht gänzlich in den Kosmos des Romans ein. Es ist, als durchlebe man mit offenen Augen einen lebendigen Traum, wie der chinesische Philosoph Zhuangzi sagte.
Der Autor sieht, wie Blutgefäße sich weiten, wenn der Protagonist wütend wird, und er kann den Alkohol in seinem Atem riechen, wenn die Hauptfigur auf seine zerstörte Vergangenheit blickt und langsam ausatmet. Er spürt das Pochen eines Herzens, das unter dem Verlust seiner Liebe leidet, und auch den Schweiß, der von der Haut tropft, wenn eine Romanfigur gekränkt wurde.
Da die Welt jeden Tag besser läuft, unabhängig vom Willen des Autors, beginnen sich die Hauptfiguren und Charaktere des Romans zu diesem Zeitpunkt ganz von allein zu bewegen.
Der Schriftsteller ‚beobachtet‘ all das lediglich und tut eigentlich nichts. Und wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, beginnt er, die Welt in und um den Protagonisten zu dokumentieren, indem er einfach ohne nachzudenken (wirklich ohne Gedanken) auf die Tastatur eintippt. Ich habe oft das Gefühl, dass ich immer denselben Satz mechanisch anschlage. Sobald man diesen Zustand erreicht hat, spielt es keine Rolle mehr, dass man dabei ist, einen Roman zu schreiben. Weil Romane so leicht zu schreiben sind, wie ein Witz.
Mein Hochschullehrer betete den Satz immer wieder herunter: „Schreibe keine Romane, lebe sie.“ Lange habe ich das Geheimnis dieser Worte nicht erkannt.
Was ist Ihrer Sicht nach ein literarisch guter Noir?
„Sind Sie ein Noir-Schriftsteller? Oder machen Sie Thriller? Oder sind Sie ein reiner Literaturautor?“ Mir werden oft viele solcher Fragen gestellt. Tatsächlich interessiere ich mich nicht sehr für das Genre oder die individuellen Merkmale des Genres selbst, und ich kenne diese auch nicht gut. Wenn ich es wagen darf, der Klassifizierung der Kritiker zu folgen, ist Das Kabinett ein Fantasy-Roman, Die Plotter ein Thriller, Heißes Blut ein Noir und meine Kurzgeschichten-Sammlung Zap reine Literatur.
Meiner Meinung nach ist der Anfang einer Geschichte wie ein Samen. Wenn man ihn also in den Boden sät, werden die Kartoffelsamen schließlich zu Kartoffeln und die Rebsamen entwickeln sich schließlich zu Weinreben. Ich denke, das Genre oder der Stil der Geschichte sind wie ein Keim, durch den die Geschichte von selbst die Hülle findet, die zu ihr passt. So wie Menschen Kleidung entsprechend des Anlasses wählen und tragen, aber niemand kann sich den Menschen passend zur Kleidung aussuchen. Tatsächlich treten alle möglichen Probleme auf, wenn ein Schriftsteller einen Kartoffelsamen nimmt und widerstrebend versucht, ihn zu einer Süßkartoffel zu züchten. Es gibt demnach nur eine Einteilung, die ich für Geschichten habe: Gute und schlechte Geschichten oder echte und falsche Geschichten.
In Heißes Blut gibt es eine ganze Reihe von Clown-Figuren. Als wir uns in Frankfurt kennengelernt haben, habe ich Sie auch ein wenig wie einen Clown erlebt. Wozu sind die Clowns notwendig?
Auf Partys hoffe ich, einen großartigen Clown abzugeben. Wer mag schon einen bedrängten Philosophen neben sich an der Theke oder einen melancholischen Schriftsteller, der von seinem eigenen Stil überwältigt ist? Wer sein Leben ernsthaft, einsam und quälend leben möchte, ist auf einer Party fehl am Platz. Der hat wohl bereits genug Zeit damit in seinem eigenen Keller verbracht. So gesehen sind Clowns tolle Leute. Weil sie lustige Personen sind, die sich selbst auf den Arm nehmen, um andere zu erheitern. Deshalb liebt jeder Clowns. Deshalb braucht jeder Roman einen Clown.
Ich mag es, der Clown zu sein. Aber je älter ich werde, desto schwächer werde ich darin, werde komplizierter, schwerfälliger und arroganter. Das ist problematisch. Das sollte nicht sein. Ich muss leicht wie eine Feder, simple und lustig werden. Ich möchte eine unbeschwerte Person sein, die jeder anstubst, anspricht, ins Gespräch verwickelt und ein wenig aufziehen kann. Wenn ich so einen Auftritt ohne weiteres selbst durchhalten kann, wird das Gewicht meiner Seele und meines Schutzpanzers, der mein Ego mit allen Mitteln verteidigt, geringer.
Eine Freundin aus dem Verlagsgewerbe, die schon ein paar Mal in Korea und Ostasien war, hielt die Koreaner für die „Italiener Ostasiens“: heitere, lustige Leute, die immer zu einem Scherz aufgelegt sind, und nicht alles so bürokratisch handhaben. Sehen Sie sich auch so?
Ich hatte in den letzten 10 Jahren viele Möglichkeiten, die Welt zu bereisen. Ich war mir vorher dessen nicht bewusst, aber ich fand heraus, dass Koreaner sehr seltsame Menschen sind. Ich habe auch gelernt, dass die größten und negativsten Kritiker Koreas Koreaner sind. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich meiner Heimat gegenüber auch sehr kritisch. In der Tat geizen Koreaner gern mit Lob für ihr Land.
Koreaner haben nach archäologischen Befunden bereits vor 10.000 Jahren auf der koreanischen Halbinsel gelebt, historische Belege sind etwa 5.000 Jahre alt. Koreaner waren ein Reitervolk, ja, Nomaden wie die Mongolen. Es ist eine Mischung von Nomaden aus dem Norden und Landwirtschaft betreibenden Stämmen aus dem Süden. Das scheint Koreaner von Chinesen, Japanern oder anderen Asiaten zu unterscheiden.
Nomaden mögen keine schematisierte Autorität oder Ordnung und sind wild, individuell und frei. Wie soll ich es ausdrücken, die Einzelnen sind gut als Krieger, taugen aber nicht als Soldaten in der Armee. Also ohne einen guten Anführer bleiben sie ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Aber wenn sie einen guten Anführer treffen, können sie so stark sein wie die Armee von Dschingis Khan.
Laut einer Statistik ergaben Satellitenaufnahmen, dass Korea das Land mit der schnellsten Mobilität der Welt ist. Natürlich ist alles in Korea sehr schnell. Koreaner sind im Allgemeinen fröhlich, energisch und sehr offen über ihre Gefühle. Gleichzeitig sind sie sehr hitzig und geradezu unhöflich kritisch. Vielleicht aufgrund der lange gehegten Ideologie des Konfuzianismus, haben Koreaner eine übertriebene Leidenschaft für Bildung, und sie bilden eine sehr wettbewerbsfähige Gesellschaft, weil jeder es hasst zu verlieren. Koreaner haben fast genetische Kreativität (weil sie nicht gleich oder schlechter stehen können als andere) und sie sind starrköpfig (denn niemand hört auf den anderen).
Es gibt jedoch Zeiten, in denen sich diese Starrsinnigen versammeln und eine seltsame Einheit bilden. Als das Land 1997 durch den IWF bankrott ging, holten alle das Gold aus ihren Häusern, sammelten 250 Tonnen Gold und tilgten damit die Staatsverschuldung.
Es scheint mir, dass Koreaner keine großartigen Berechnungen durchführen, wenn sie etwas anfangen. Positiv formuliert ist der Geist der Herausforderung stark, aber wir selbst sagen auch, dass wir den Kopf in den nackten Boden rammen. Während die Japaner zum Beispiel dazu neigen, akribische Marktforschung zu betreiben und vorauszuplanen, arbeiten Koreaner zuerst und denken dann. (Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass sich diese Draufgänger wenigstens im Nachhinein Gedanken machen.)
Natürlich stößt dieses rücksichtslose Vorgehen auf viele Herausforderungen. Da fragt dann ein müder Untergebener schon mal seinen Chef: „Wie lange muss ich das machen?“ und bekommt typischerweise als Antwort: „Hä? Natürlich, bis es geschafft ist.“ Ausländer halten dies für einen Witz, aber in Korea ist das nie ein Witz.
Und alle Koreaner trinken, singen und tanzen gern. Sie werden wahrscheinlich überrascht sein, wenn Sie erfahren, wie sehr sie es mögen.
Sie waren ja 2018 ein paar Tage in Deutschland. Was ist Ihnen aufgefallen?
Meine Frau sagt, sie fühle sich wohl in Deutschland. Hotels, Straßen, Restaurants sind komfortabel und gut für Reisen ausgelegt. Wenn ich mit meiner Frau nach Europa gehe, miete ich fast immer ein Auto und fahre von Ort zu Ort. Normalerweise legen wir je nach Reise zwischen 6.000 und 10.000 Kilometer zurück. Kein geringes Herumtreiben. Mit dem Auto irgendwohin fahren, dort ein Hotel herauspicken und übernachten, so organisieren meine Frau und ich unsere Reisen. Auf unseren Europareisen sind wir oft durch Deutschland gefahren. Die naheliegenden Gründe sind, dass Deutschland mitten in Europa liegt und die Autobahnen in Deutschland so perfekt sind. Die Fahrkultur setzt weltweit Standards. Wenn ich auf der Autobahn fahre, spüre ich, dass schnelle und langsame Fahrzeuge ihre eigene Geschwindigkeit und ihren eigenen Rhythmus haben. Da gibt es ein großes kollektives Bewusstsein für die jeweils anderen Verkehrsteilnehmer und eine Ordnung, die in anderen Ländern nicht zu spüren waren. Zudem sind diese hervorragenden Autobahnen auch noch kostenlos.
Wenn ich während der Fahrt auf der Autobahn eine traumhaft schöne Landschaft sehe, kann ich problemlos dahin abbiegen, darin herumfahren und wieder zur Autobahn zurückkehren. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Autobahn, die sich wie ein Netz empfindlicher Blutgefäße im menschlichen Körper anfühlt, ganz Deutschland ermöglicht, sehr gleichmäßig und organisch zu atmen.
Un-Su Kim: Heißes Blut
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk
Europaverlag, 582 Seiten
Schreibe einen Kommentar