Die Krimibestenliste im April: acht Neue aus sieben Ländern
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Daher nur knapp ein paar Bemerkungen zu den neuen Titeln:
Dass DIE AOSAWA-MORDE von Riku Onda nicht schon 2005 bei Erscheinen in Japan ins Deutsche übersetzt worden sind, sondern erst jetzt nach seinem Erfolg 2021 im englischsprachigen Raum, verdeutlicht, wie verschlungen die Pfade zur Entdeckung der reichen und faszinierenden japanischen Krimikultur sein können. DIE AOSAWA-MORDE sind jedenfalls nicht nur ein leuchtendes Beispiel dafür, dass Autoren der Hochkulturszene – und das ist die 1964 geborene Nanae Kumagai, die sich als Schriftstellerin Riku Onda nennt – nicht nur hervorragend Krimi schreiben, sondern Stereotypen des Genres kreativ erweitern können. Auf die Frage, ob es schwieriger sei, einen Kriminal- oder einen Kunstroman zu schreiben, antwortete sie treffend und trefflich: „Different genres necessitate using different parts of the brain, so it’s not a question of one being easier than another. All are hard work.“
DIE AOSAWA-MORDE sind jedenfalls rätselhaft, offen, poetisch und phantastisch. Ihre Spannung beziehen sie aus der Vielfalt der Perspektiven auf den Massenmord an 17 Personen bei einem Familienfest, aus der Sprache seiner vielen Stimmen und aus dem Reichtum an Anspielungen (Borges, Eco, reale japanische Kriminalgeschichte, Expressionismus und Konstruktivismus, japanische Mythologie). Wie ein Kritiker schrieb: Man kann diesen Roman sofort wieder beginnen, ein zweites Mal zu lesen.
VERTRAUEN des Israeli Dror Mishani ist auf seine Weise auch ein freies Spiel mit dem klassischen Rätsel-Krimi, mit Einsprengseln des Spionagethrillers (weshalb der im Roman zitierte Roman auch eine Hommage an den großen literarischen Mafia-Entlarver Leonardo Sciascia, gesprochen „Schascha“, ist).
Gemessen an diesen beiden literarischen Giganten, die zu Recht die ersten Plätze auf der Krimibestenliste einnehmen, nimmt sich AM ROTEN STRAND von Jan Costin Wagner sehr viel konventioneller aus. Was dem Buch ausgesprochen gut tut. Im Unterschied zu allerhand Mystizismen und Schauerbildern von Wagners erstem lobenswerten und wagemutigen Versuch, in SOMMER BEI NACHT einen pädophil veranlagten Cop bei der Ermittlung gegen pädosexuelle Verbrecher zu entwickeln, bietet das Sequel AM ROTEN STRAND eine erfreulich klare, straighte Story um Rache, Verletzung und Schuld, weshalb der Verlag jetzt eine Fortsetzung der Serie plant, die Bemerkenswertes erwarten lässt.
Im Vergleich zum präzisen, poetischen schwedischen Originaltitel DIE MISSETATEN DER VÄTER ist der deutsche WER OHNE SÜNDE ISTeiner der bei Penguin-Randomhouse beliebten pseudo-biblischen Schwurbeltitel. Die Fortsetzung des Evangelientextes „werfe den ersten Stein“ hat mit Geist und Sinn des tollen Abschlusses der Rebecca-Martinsson-Serie von Åsa Larsson so viel zu tun wie Benetton-Werbung mit der Realität des globalen Südens. Wer Henning Mankell und seine Vorläufer Sjöwall/Wahlöö zu Recht auf der städtisch-zivilisierten Seite des sogenannten „Schwedenkrimis“ einordnet, findet Åsa Larsson dort, wo es um Natur, Land, raue Klassen- und Geschlechterverhältnisse geht. Kurz: Larsson zeigt uns die wirklich finstere Seite Schwedens in aller Härte, die rassistische, spirituelle und soziale Unterdrückung der Sami, das ausbeuterische Verhältnis zu den Schätzen der Natur, die Skrupellosigkeit der Bereicherung. Aber auch die Liebe zu Tieren und aufrechten Menschen.
Die Neigung zu aparten Schauplätzen charakterisiert den österreichischen Sprachspieler Wolf Haas mindestens genauso wie seine Kunstsprache aus Leerformeln, die jeden Rezensenten quasi in einen Haas-Imitator verwandelt: MÜLL, der erste Brenner seit acht Jahren, spielt auf einem Mistplatz, so wie andere Brenner schon im Paradies, in der Hölle, in einem Leichenschauhaus oder in der Schwarzenegger-Arena gespielt haben. Ansonsten: „Gewohnt beiläufig. Gewohnt komisch. Gewohnt gut.“ (Sonja Hartl, die wie einige andere Juroren ausnahmsweise an den Kommentaren dieser Krimibestenliste mitgeholfen haben, weil: sonst immer Gohlis)
In BULLET TRAIN führt Kotaro Isaka im rasenden Tempo eines Schinkansen die ostasiatische Vorliebe für das Mixen westlich-europäischer Genre-Merker mit technisch-sozialem Drive vor. Herausgekommen ist jedenfalls keine Variante der US-amerikanischen Geschwindigkeitsanbetung von GM-Produkten, sondern ein durchgedrehtes speziell japanisches Boss-und-Handlanger-Kammerspiel mit einer Leiche als Passagier in der Ersten Klasse.
WENN UNSERE WELT ZERSPRINGT von Samira Sedira behandelt dörflichen Rassismus auf nicht gewöhnliche Weise: Ermordet werden Schwarze, aber wohlhabende Schwarze Städter, gemobbt wird die Frau des Mörders.
In LIGHTWOOD von Steph Post lernen wir das Hinterwäldler-Milieu von Florida kennen, das uns bisher nur der unübertroffene Carl Hiaasen so drastisch gezeigt hat, mit dem Unterschied, dass die inzwischen Creative Writing unterrichtende Steph Post es hautnah kennen gelernt hat. Es unterscheidet sich nicht wesentlich von dem anderer US-Staaten, nur durch die infernalische Hitze. Wenn mich nicht alles täuscht, ist die bösartige Predigerin, die in LIGHTWOOD ihr Unwesen treibt, eine verdeckte Hommage an den leider ziemlich vergessenen Charles Willeford, der in DER HOHEPRIESTER und in SCHWARZE MESSE gleich zwei dieser religiösen Schwindler-Verbrecher porträtiert hat, die Florida so anziehend finden.
Die Krimibestenliste April ist seit Freitag, dem 1. April, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert. Und bereits am Freitag morgen hat Sonja Hartl bei Deutschlandfunk Kultur DIE AOSAWA-MORDE als höchsten Neueinstieg besprochen.
Viel Vergnügen!
Tobias Gohlis
Christoph meint
Danke für die Liste – immer wieder!
Zum Thema Krimis und Krieg: gerade wegen des Großverbrechens Krieg ist es wichtig, über Krimis und überhaupt über Bücher zu reden und zu schreiben. Wir brauchen ein Gegengewicht gegen das Grauen, einen Rückzugsort, Figuren, die uns in ihre Welt mitnehmen und uns eine Auszeit verschaffen.
Tobias Gohlis meint
Gerne wird der Dank angenommen.
Aber: Bücher als Rückzugsort sind das eine, das andere sind Bücher als Medien der Reflexion, gerade auch über das, was und warum „das Gute“ nicht funktioniert – oder trotzdem.