Zwei Neue aus den USA, je ein Krimi aus den Niederlanden, Argentinien und Japan
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Die Bäume
Gertrude, abgebrühte Kellnerin in Percival Everetts wüst komischem Krimi DIE BÄUME fasst das antirassistische Dilemma so zusammen:
„Alle reden von Völkermord überall auf der Welt, aber wenn das Morden langsam stattfindet und auf hundert Jahre verteilt, nimmt es keiner wahr. Die Empörung in Amerika ist immer nur Show. Sie hat ein Verfallsdatum.“
Gegen das Vergessen zieht Percival Everett mit brachialen Mitteln vom Leder: Brutale Obszönität, endlose Wiederholungen, drastische Komik. Neben ermordeten Rednecks in Money, Mississippi, wo 1955 Emmett Till gelyncht wurde, liegen seltsame Leichen.
Irgendwie untote Schwarze, mit den Hoden der Gekillten in der Hand. Sie verschwinden und tauchen neben anderen Ermordeten wieder auf. So sieht die Rache der in hunderten Jahren der Sklaverei Gelynchten aus. Ein Feldzug gegen weiße Rassisten, der die USA überrollt und den Präsidenten (Trump) in einen wimmernden Angsthasen verwandelt. Im Hintergrund die 105-jährige Mama Z, die das Archiv aller Gelynchten hütet: endlose Listen von Namen, deren Träger nicht zur Ruhe kommen können und den Albtraum der Rassisten wahrmachen: Sie fallen als Zombiemeute über sie her. In Money, Mississippi, wo 1955 die Ermordung Emmett Tills die ersten großen Massenproteste für Bürgerrechte auslöste, geht es wieder los. Weiße Rassisten kriegen das zurück, was sie den Asiaten und Afroamerikanern angetan haben, Stück um Stück.
Der Taucher
DER HOLLÄNDER von Mathijs Deen war 2022 mal wieder ein intelligentes, kenntnisreiches und spannendes Exemplar des lange Jahre vor sich hin dümpelnden Subgenres des maritimen Krimis. Jetzt ermittelt der „Holländer“ Liewe Cupido wieder zwischen Land und Meer, diesmal in der Deutschen Bucht unter verfeindeten Wracktauchern und Schatzjägern. DER TAUCHER ist Deens zweiter Krimi und beweist, was man immer schon wusste, aber immer wieder gerne liest: Hass und Rassismus gären auch unter verschworenen Seeleuten.
Kathedralen
Heuchelei, Bigotterie und Chauvinismus waren schon oft die Ingredienzen, aus denen die vielfach ausgezeichnete argentinische Autorin Claudia Piñeiro raffinierte Krimis komponierte. In KATHEDRALEN – angelehnt an den beinahe gleichlautenden Erzählband Raymond Carvers – löst die keineswegs uneigennützige Suche der Eltern Sardá nach ihrem in Europa verschwundenen Sohn die Rekonstruktion des Todes der jüngsten Tochter Ana Sardá vor dreißig Jahren aus. In einem vielstimmigen Chor rechtfertigen, erinnern und beschönigen ihre Handlungen von damals: der Enkel, die Schwestern, der Vater, der Liebhaber, ein Detektiv. Besonders beeindruckend die Freundin Anas, Marcela, die durch einen Unfall in retrograde Amnesie verfallen ist, nachdem Ana in ihren Armen gestorben ist. Sie kann sich nur noch an das erinnern, was davor stattgefunden hat.
Sunset City
Die Lyrikerin Melissa Ginsburg hat sich an ihren ersten Krimi gewagt: SUNSET CITY. In den Schilderungen der Stadtlandschaft Houstons schimmert Poesie durch, gerade weil sie so trist ist: Kneipen, Clubs, billige Diners… Pornostudios. Dort landet Charlotte, weil sie nach dem brutalen Mord an ihrer gerade wiedergefundenen ehemaligen Jugendfreundin Danielle, verlassen von ihrem Freund, noch einsamer geworden ist. Charlotte Ford ist die Ich-Erzählerin, die durch das Dämmerlicht Houstons treibt, abgeschreckt von der geldfixierten, renommiersüchtigen Mutter Danielles, fasziniert von Detective Ash, aus dem Gleis geworfen, bis sie auf die Person stößt, die alles nicht mehr ertragen konnte, die Drogen, den mechanischen Sex, das Ungeliebtsein. Am Ende bekommt Charlotte genug Geld, um das anständige Mittelstandsleben zu starten, nach dem sie sich immer schon gesehnt hatte. Danielles Mutter: „Du musst Dir nie mehr Sorgen machen, verstehst Du? Du hast Sicherheiten.“
Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen
Riku Ondas DIE AOSAWA-MORDE, bis zur Undurchsichtigkeit verrätselt und doch eindeutig Kriminalroman, machten 2022 klar, welche großartigen Pfade die japanische Kriminalliteratur bahnt. Onda sahnte Auszeichnungen ab, den Deutschen Krimipreis, den ersten Platz der Krimibestenliste 2022, die japanischen Krimischriftsteller hielten es für das beste Buch des Jahres 2006.
FISCHE, DIE IN SONNENSPRENKELN SCHWIMMEN erschien ein Jahr später. Aki und Hiro kommen noch einmal in der gemeinsamen, bereits ausgeräumten Wohnung zusammen, um sich über ihre Beziehung (sehr kompliziert), ihre Liebe (noch komplizierter) und vor allem über ein Ereignis auszusprechen, das ein Jahr zurückliegt. Unter dem Verzehr von Unmengen Alkohol, Lebensmitteln und Zigaretten (Hiro) versuchen sie, sich zu überführen. Denn sie verdächtigen sich gegenseitig, den Bergführer von damals umgebracht zu haben. Während sie sich zum Geständnis überreden oder überrrumpeln wollen, rollen sie den überhaupt nicht harmlosen Hintergrund jenes scheinbaren Vergnügungsausflugs in die Berge auf, in einem furiosen Hin und Her. Jedes der 26 Kapitel gibt im Wechsel Hiros oder Akis Ich-Perspektive wieder.
In zahlreichen überraschenden Wendungen, furios wie ein Kaleidoskop erzählt, in dem immer wieder neue schlüssige Bilder entstehen, bis sie durcheinandergeschüttelt werden, steigert Onda die Spannung. Doch den beiden – einzigen – Protagonisten geht es wie den Fischen, die auf die Welt blicken: Sie schwimmen unter der Wasseroberfläche und versuchen, die Sonnensprenkel zu verstehen, die sich auf ihr spiegeln. Platons Höhlengleichnis auf Japanisch: ohne die Vorstellung, man könne hinter all den verschwommenen Bildern ewige Ideen erahnen.
„Drei Menschen blicken vom Grund des Wassers hinauf zum Licht an der Oberfläche. Ihre Augen sind von unschuldiger Sehnsucht erfüllt. Sie blicken schweigend auf die ferne Wasseroberfläche, die sie nie berühren, und auf das Licht, das sie nie erreichen können. Ihre Zukunft, die niemals eintreffen wird.“
Lesen Sie hierzu auch den Beitrag in Hanspeter Eggenbergers wöchentlicher Krimikolumne KRIMIKRITIK, die für die Jury der Krimibestenliste eine wichtige Inspirationsquelle ist, herunterkommend vom Zürichsee.
Die Krimibestenliste März ist seit Freitag, dem 3. März online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Die Rezensionen sind auch online nachzulesen. Am Freitag morgen habe ich bei Deutschlandfunk Kultur über DIE BÄUME als höchsten Neueinstieg der Märzliste gesprochen.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und sehr oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.