Sieben neue Titel: zwei aus den USA, je einer aus Frankreich, Italien, Australien, Großbritannien, Indien.
Die Schauplätze: „Gunthrum“, Sizilien, Ghana, Miami, Rom, Cabramatta, Washington D.C., Boston, Chattarpur.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Wem Kriminalliteratur „zu blutig“ ist – wenn das denn der Geschmacksorientierung dient – dem bietet die aktuelle Krimibestenliste Juli reichlich Lesestoff: Mit Ausnahme der ghanaisch-amerikanischen Autorin Yasmin Angoe, die Ihre Leserinnen vor möglichen Triggern warnt: „Die Gewaltdarstellungen sind sehr explizit, aber ich habe darauf geachtet, mich diesen Themen mit größter Sensibilität und mit Respekt anzunähern.“, sind die sechs anderen neuen Bücher ausgesprochen gewaltarm, allerdings nicht sanftmütig. Hier meine Bemerkungen, Kurzkommentare finden Sie auch auf der Krimibestenliste.
Platz Eins im Juli:
1 Dunkelzeit (Deer Season)
In einem Interview betont Erin Flanagan, dass ihr Debütroman DUNKELZEIT in Erinnerung an den Ort entstanden ist, in dem sie aufgewachsen ist: Sanborn in Iowa. Die Geheimnisse des sehr ländlichen „Gunthrum“, der Ort selbst spielt die zentrale Rolle, was auch im Originaltitel mitspielt, und das Leben sind nach den bäuerlichen Gegebenheiten organisiert. Dazu Mutterschaft, Alkohol, Gemeinschaft, Selbstjustiz versus Sheriffsjustiz.
Im Umgang mit Hal, einem 28jährigen, geistig eingeschränkten Hilfsarbeiter, der in Verdacht gerät, die verschwundene Peggy getötet zu haben, kulminieren die Konflikte. Ein feines Stück Dorfporträt trifft auf Kriminalroman ohne die oft damit verbundene Hinterwäldlerei: statt Country Noir Country Real.
2022 wurde DUNKELZEIT als bestes Debüt mir dem Edgar ausgezeichnet. Lesen Sie hier Thomas Wörtches Rezension.
2 Taormina (Taormine)
Ein Leckerbissen! Kurzgebraten aus Bösartigkeit, scharfer Beobachtung und üblen Andeutungen. TAORMINA ist die mal jammernde, mal nörgelnde Selbstrechtfertigung eines Würstchens, das es allen recht machen will. Brillant durch makabren Witz und noch eine makabrere Pointe. 70 Jahre ist Yves Ravey und wird immer weiser.
3 Echo der Gewalt (Her Name is Knight)
Oft meckern wir Kritiker ja über die deutschen Titel von Übersetzungen, die schlechter gewählt sind als die originalen. Diesmal ist es umgekehrt: Thomas Wörtche spiegelt mit ECHO DER GEWALT nicht nur die formale und inhaltliche Struktur von Yasmin Angoes Erstling, sondern auch einen der Namen ihrer Heldin. Echo ist nach dem Nato-Alphabet der Kampfname von Aninyeh. Bei dem Überfall und der Zerstörung ihres Dorfes in Ghana hat sie diesen Namen verloren. Ihr Vater und ihre Brüder wurden getötet, sie selbst mehrfach vergewaltigt und als Sklavin an einen sadistischen Kleinbürger nach Frankreich verkauft.
Das ist der eine Teil ihrer Geschichte, in Schuss und Gegenschuss in Präsenz und Ich-Perspektive erzählt mit dem zweiten Teil, in dem Echo als Echo der ihr früher zugefügten Gewalt agiert (in der dritten Person und Vergangenheit). Sie lebt als Einzelgängerin und Auftragskillerin in Diensten der Organisation Tribe, die das Ziel verfolgt, Afrikas kapitalistischen und politischen Einfluss auf der Welt unter Wahrung der Menschenrechte zu mehren, was, wie im wirklichen Leben, die physische Vernichtung der Gegner dieses ehrenwerten Projekts einschließt. Als sie statt einen Staatsanwalt, der Tribe im Weg ist, zu erschießen, einen ihrer Peiniger von damals umnietet, verwandelt sich die Story in einen Rausch der Rache voller Action.
Aninyeh heißt inzwischen bürgerlich Nena Knight, weil sie von der philanthropischen afrikanisch-britischen Familie Knight adoptiert wurde: Einmal Prinzessin, immer Prinzessin. Und weil Yasmin Angoe von der Versuchung nicht lassen konnte, eine Knight-Trilogie zu verfassen. Ich hoffe, dass daraus die anfängerhaften Dialoge zugunsten noch krasserer Comic-Elemente verschwunden sind, die ECHO DER GEWALT trotzdem zu einer mitreißenden Lektüre machen.
4 Die Stadt der Lebenden (La città dei vivi)
Im Unterschied zur Reportage oder anderen journalistischen oder wissenschaftlichen Texten orientiert sich der Tasachenroman zwar an den Fakten, aber nicht jedes Faktum, von dem er handelt, muss überprüfbar sein.
Truman Capotes IN COLD BLOOD ist wohl der berühmteste Tatsachenroman, Rodolfo Walsh setzte seine literarischen Rekonstruktionen als Waffe gegen die argentinische Militärdiktatur ein. Tatsachenromane erschließen mit fiktionalen literarischen Methoden anders nicht Erklärbares oder (wie im Fall Walshs) politisch anders nicht Sagbares. Auf der Krimibestenliste stand 2011 Didier Decoins DER TOD DER KITTY GENOVESE als Versuch, mit erzählerischen Mitteln etwas Ungeheures, den Bystander-Effekt, zu fassen. In dieser großen Tradition preisen wir jetzt Nicola Lagioias DIE STADT DER LEBENDEN.
Im März 2016 brachten zwei junge, mehr oder minder erfolgreiche Männer um die dreißig in Rom einen 23-jährigen Handwerker in einer Tage und Nächte dauernden Folter um, anscheinend ohne Motiv. Der Autor Nicola Lagioia (bereits 2017 auf der Krimibestenliste) sollte eine Reportage über den Fall schreiben, lehnte ab, schrieb sie dann doch und war so faziniert, dass er im folgenden mehrere Jahre an diesem Roman arbeitete.
Unmöglich, ihn zusammenzufassen.
DIE STADT DER LEBENDEN ist eine Spurensuche im Unfassbaren, der Versuch, alle Elemente eines kulturellen Schocks zu einzufangen, ähnlich wie Ed Sanders mit THE FAMILY die Morde der Manson-Bande als moralischen Zusammenbruch der kalifornischen Blumenkinderära markierte.
Die im Klappentext hervorgehobenen Teile des Buches, ohne die Rom nicht zu verstehen sei, sind die schwächsten. Die stärksten ergeben sich aus der unendlich langsamen, in sehr kleinen Schritten vollzogenen, immer wieder die Umstände der Recherche reflektierenden Annäherung an die Nacht des 4. März 2016, in der Manuel Foffo und Marco Prato im Drogen-, Sexual-, Gewaltrausch Luca Varani erstachen, erdrosselten, massakrierten. In dieser Annäherung an ein mit keiner Kategorie gänzlich zu verstehendes Verbrechen entstehen Skizzen der Welten drum herum, in denen das möglich war.
In ihrer lesenswerten Rezension in der taz verweist Francesca Polistina auf ein Interview mit Klaus Theweleit, der bei einer bestimmten Sorte von aus Lust mordenden Männern („Das Lachen der Täter“) eine psychische Grundstörung aus ‚Entdifferenzierung‘ und ‚Entlebendigung‘ entdeckt zu haben glaubt. Aber: Auch gute Psychologie kommt nicht völlig dahinter.
DIE STADT DER LEBENDEN gehört zu den Büchern, die man nicht vergisst.
7 All die ungesagten Dinge (All That´s Left Unsaid)
Auch Tracey Liens Roman ist ein Debüt. Lien wuchs in Cabramatta, einer hauptsächlich von Vietnamesen bewohten Suburb Sydneys, auf, arbeitete in der Los Angeles Times und studierte in Kansas Creative Writing.
Ky Tran, die Journalistin und Streberin, die in ALL DIE UNGESAGTEN DINGE nach dem Mord an ihrem Bruder in den 1990er Jahren aus Melbourne an den engen Ort ihrer Jugend zurükkehrt, wird wohl Züge der Autorin tragen. Der Roman hat nichts Anfängerhaftes. Langsam, voller Selbstzweifel und Schuldgefühle, tastet sich Ky („gesprochen Kiie, nicht Kai“) an den Abend heran, an dem ihr jüngerer Bruder Denny bei der Schulabschlussfeier erschlagen wurde. Alle Demütigungen der geduldeten Migranten, der Heimatverlust, der Anpassungsdruck der neuen fremden Gesellschaft, die sich ihrer so sicher ist, die Drogenszene, in der Kinder der zweiten Generation versacken – all das wird in den zäh errungenen Aussagen der Zeugen, die zunächst nicht sprechen wollen, können, dürfen, deutlich. Ein beeindruckendes Buch, das geeignet ist, Weißbrote und selbstgewisse Natives aus ihrer Selbstzufriedenheit zu reißen.
Mich hat am meisten beeindruckt, wie sehr die eingeforderte „Selbstverständlichkeit“, die Sprache der neuen Heimat zu lernen, von den unfreiwillig Eingewanderten als subtiler Terror erlebt wird.
9 Going Zero (Going Zero)
Es beginnt wie ein unterhaltsam aufgemachtes Didaktikbuch über die Überwachungsmacht der (Un-) Social Media und entfaltet dann doch eine erstaunliche Spannung. GOING ZERO des neuseeländisch-britischen Autors Anthony McCarten geht aus vom Plan eines Musk-Zuckerberg ähnelnden Milliardärs – hier Cy Baxter –, die überwältigende Macht der Social Media mit der noch unbeschränkteren macht der Geheimdienste durch ein Gewinnspiel zu verknüpfen. Wer 30 Tag unentdeckt lang der geballten Macht von Fusion entgeht, gewinnt drei Millionen Dollar. Bibliothekarin Kaitlyn (ein Büchermensch ohne Smartphone- Bildung) scheint es schaffen zu können, weil sie ein paar spezielle Tricks und ein paar besondere Freunde und ein Ziel hat, das über Geld weit hinaus geht: Sie will die Geheimdienste selbst stellen, die das von Baxter und seinem Konzern WorldShare arrangierte Spiel von höherer nationaler Warte aus betrachten.
10 Mord (Hatya)
Anjali Deshpande, die jetzt mit dem schlichten Titel MORD auf dem deutschen Büchermarkt gelandet ist, beschreibt sich selbst ironisch so:
„freelance journalist. manage my world without much sense of discipline. and every now and then, I write. have a husband but no cats or children“.
Ihr deutscher Verleger berichtet, dass die Übersetzerin Almuth Degener auf einer ihrer Forschungsreisen in Indien immer wieder diesen Namen gehört hat, als sie nach Krimis fragte.
MORD ist das außergewöhnlichste Buch der Juli-Liste. Formal eine Mordermittlung: Eine junge Prostituierte wird auf einem Latifundium ermordet, die unterbesetzte und unterausgestattete Polizei ermittelt nach Maßgabe der Bestechungsgelder, ein suspendierter Polizist mit Drang zur Flucht vor zu Hause ermittelt. Den Umgang mit dem Täter regelt das Kasten- und Bestechungswesen. Der aufrichtige Polizist wird gefeuert. Warum und wieso das so ist? Rätsel über Rätsel. Nur eins ist klar: Hier schreibt niemand aus höherer (Polizisten-, westlicher oder Kasten-) Perspektive, hier schreibt Anjali Deshpande von unten von etwas, was ihr auf den Nägeln brennt.
Deshalb werden Kriminalromane verfasst. Lesen!
Die Krimibestenliste JULI ist seit Freitag, dem 7. Juli, online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden. Die Krimibestenliste JULI vom Deutschlandfunk Kultur gibt es als zweiseitiges PDF hier. Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Die Rezensionen wie auch der Link zur Krimibestenliste sind auch online auf der Seite Bücher des Monats nachzuhören und zu –lesen.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag, mit vielen Rezensionen. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Aus der Jury: Am Sonntag sendet der Byrische Rundfunk die letzte Krimikolumne von Andreas Ammer. Es war mit 33 Jahren ununterbrochener Sendung die älteste Krimikolumne im öffentlich-rechtlichen Rundfunk in deutscher Sprache. Immerhin hat die Kolumne damit göttliches Lebensalter erreicht. Kommentar erübrigt sich: intellektueller Schwund.
Andy Ammer ist Regisseur der geschätzten Sendung Druckfrisch und vielfach ausgezeichneter Hörspielkunstmacher. Er scheidet leider aus der Jury der Krimibestenliste aus, in der nur publizierende Kritikerinnen und Kritiker vertreten sind.
Nachdem auch der Schweizer Tages-Anzeiger Hanspeter Eggenbergers wöchentliche Kolumne aus seiner Haupt- und allen lokalen Ausgaben gestrichen hat, ist Hanspeter Eggenbergers unbestechliche Meinung nur noch auf seinem Blog Krimikritik nachzulesen.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Sommertage!
Ihr Tobias Gohlis