Sieben neue Titel: je einer aus Frankreich, Schweden, Deutschland und Südafrika, drei aus USA. Die Schauplätze: Highschool USA, „Louviec“, Bretagne, Paris, Skavböke, Halland, Las Vegas, Rhode Island, Los Angeles, „Wechtershagen“, Mecklenburg, Kapstadt.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit zwei Jahren und vier Monaten.
Weiter Platz Eins im Juni:
Auf der Krimibestenliste Juni sind eine Reihe von Romanen versammelt, die einen Abschied markieren.
Am klarsten ist dies bei Don Winslow: Er will sich, wie schon länger angekündigt, ganz der Politik widmen, d.h. dem entschiedenen publizistischen Kampf gegen Trump und den Trumpismus. Friedrich Ani, der bereits auf der Liste im Mai stand, hat wohl den letzten Roman mit seinem Lederhosen-Helden Tabor Süden geschrieben. Abschied nehmen müssen wir wohl auch von Fred Vargas‘ „Wolkenschaufler“ Adamsberg und auch von Mike Nicols lebensgewandten Kapstädter Duo Vicki Kahn und Fish Pescado.
Gänzlich neu hingegen sind Gary Phillips und Susanne Tägder, letztere mit einem Debüt. Bereits vertraut: Christoffer Carlsson mit seinem dritten Halland-Roman und Megan Abbott.
Außerdem neu auf der Krimibestenliste Juni:
2 Wage es nur! (Dare Me)
Von 2012 stammt dieser Roman aus der Feder der US-amerikanischen Noir-Autorin Megan Abbott, wie schon AUS DER BALANCE von 2021 (deutsch 2023) ein Stück, in dem Verbrechen und körperliche Bewegung/Sport engstens miteinander verknüpft sind. (Übrigens kommen in der Krimibestenliste jüngst jede Menge US-amerikanische Romane unter, die Verbrechen in den engen Milieus von Sportlern ansiedeln. Ich erinnere nur an Eli Cranors BIS AUFS BLUT oder Luisa Lunas ABGETAUCHT, die beide die Kampfzonen des American Football dramatisieren.)
WAGE ES NUR! spielt im aufgeheizten Milieu 15-/16-jähriger Cheerleaderinnen, die um die Gunst ihrer charismatischen Coach und untereinander rivalisieren. Trotz vibrierender Sexualität ein erstaunlich keusches, nicht-explizites Buch.
3 Jenseits des Grabes (Sur la dalle)
Sechs Jahre sind seit dem letzten Adamsberg vergangen. Die ewig junge Fred Vargas, auch schon über sechzig, war mehr mit ihrem gesellschaftspolitischen Engagement gegen die Klimakatastrophe beschäftigt als mit dem Roman-Schreiben. Und so weiß man nicht genau, ob die anfänglichen Längen von JENSEITS DES GRABES mangelndem Training zuzuschreiben sind oder einer generellen Tendenz zur Musealisierung Kommissar Adamsbergs, immerhin ist es sein zehnter Auftritt.
Der französische Titel SUR LA DALLE ist Fachchinesisch (Fred Vargas ist Archäologin von Beruf) für den querliegenden Deckstein eines steinzeitlichen Dolmen. Auf einem solchen ruht sich Adamsberg aus, um Inspiration zu gewinnen, denn der Fall, mit dem er es zu tun hat, ist wie üblich verworren und bizarr. In Louviec, das wie Jurymitglied Jochen Vogt bemerkt, auf „keiner Karte zu finden“ ist, werden Leute ermordet, die ein Ei zerdrückt in der Hand halten. Echte Opfer, vom dämonischen Serientäter erstochen, sind jedoch nur die, die auch von einem Floh gebissen wurden. So was bekommt nur Adamsberg heraus.
Verdächtig ist zunächst aber ein anderer. Er heißt nicht nur wie der Politiker und Literat Chateaubriand, der die französische Romantik stark beeinflusste, sondern sieht diesem Ururonkel auch noch wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Chateaubriand Zwei entpuppt sich als Seelenmensch und Tierliebhaber, allen Demütigungen zum Trotz, die er unter seinen Bretonen erleiden muss.
Die berühmten „Mémoires d’outre-tombe“ des Ururonkels haben dem Lektorat die Idee für den deutschen Titel eingegeben, der zwar gut klingt, aber Adamsbergs vermutlich letzter Fall klingt nur in einem sehr metaphorischen Sinn von JENSEITS DES GRABES herüber.
4 Wenn die Nacht endet (Levande och döda)
Die Erzählkunst des trotz bereits sechs veröffentlichter Kriminalromane noch immer recht jungen schwedischen Kriminologen und Autors Christoffer Carlsson (*1986 in Halmstadt) ist verblüffend.
Wie Faulkner tanzt er zwischen Familienabgründen und Zeiten. Seine Behandlung von Verbrechen ist trotz gelieferter Auflösung antidetektivisch: Zufälle und unergründliche psychische Dispositionen spielen bei ihrem Zustandekommen eine derart große Rolle, dass sie nur durch Zufälle aufgeklärt werden können. Polizisten, hier, wie immer in den bisher drei Halland-Romanen Carlssons, der bodenständige Vidar Jörgensson, sind beschränkt auf die Rolle von Katalysatoren in einem weitaus größeren Geschehen.
Unsicherheit, Ungewissheit sind in WENN DIE NACHT ENDET zentral: Wird die Gesellschaft den Jahrtausendwechsel 2000 ohne Zusammenbruch überstehen? Ein Erdrutsch, ausgelöst durch Quickton, lässt nicht nur den Tatort, sondern größere Teile des Dorfes Skavböke verschwinden. Wie steht es um die Beziehungen zwischen Mikael, der ermordet wurde, und den beiden Busenfreunden Killian und Sander zur umschwärmten Felicia?
Und was passiert, wenn die Toten noch weiterleben? Zu letzter Frage wurde Carlsson durch ein Gedicht der großen schwedischen (Kriminal-) Schriftstellerin Kerstin Ekman inspiriert, in dem es heißt: „Existiert keine Grenze zwischen den Lebenden und den Toten?“ Es dient diesem, großen, wundersamen Kriminalroman als Motto.
5 City in Ruins
Mit CITY IN RUINS schließt Don Winslow nicht nur die Trilogie über den Mafioso Danny Ryan aus Rhode Island ab, sondern erklärtermaßen sein literarisches Werk. Rhode Island – San Diego – Los Angeles – Las Vegas – Rhode Island – das könnte der Lebensbogen sein, den Winslow selbst geschlagen hat.
Danny schwingt sich in Las Vegas zum Kasino-Mogul der neueren Art auf, muss aber Wissen und Verbindungen aus seiner eigenen und der Mafia-Epoche Nevadas aktivieren, um diesen Rang zu halten. Auch die epische Parallele zur Äneis, die Winslow bemüht, geht zu Ende: Dannys Sohn gründet kein neues Rom, sondern ein Glücksspielimperium. Das darf verraten werden.
7 One-Shot Harry
Mit Gary Phillips erscheint ein weiterer Schwarzer Autor aus den USA am deutschsprachigen Krimihorizont – wieder eine verlegerische Leistung des Polarverlags.
Gary Phillips ist als Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivist, Autor und Filmemacher zutiefst vertraut mit zwei Perspektiven: der der immer noch diskriminierten Schwarzen und der historischen von Los Angeles. Erinnerung, Aufbewahrung der vergessenen Geschichte der Unterdrückten ist sein Antrieb. Welche Figur wäre dafür geeigneter als ein Schwarzer Pressephotograph?
ONE-SHOT HARRY heißt vermutlich so, weil ihm ein Foto reicht, um eine Szene zu erfassen. Harry Ingram war im Korea-Krieg und setzt jetzt die Masse seiner journalistischen, gesellschaftlichen und Veteranen-Beziehungen ein, um herausfinden, ob der Tod eines Kameraden, der ihm das Leben gerettet hat, Unfall oder Mord war.
Wir sind im Krimi: Harry geht von Mord aus und findet auch schnell eine Geheimgesellschaft, die „Providers“, die mit allen Mitteln im Hintergrund dafür arbeiten, dass die USA aus dem rechten kapitalistischen Pfad bleiben. Kamerad Kinslow hat nun Erpressungsmaterial über diese Providers zusammengetragen – Gelegenheit für Phillips, das Los Angeles von 1963 wieder lebendig zu machen. Im Gegensatz zum mythomanen Ellroy ist Phillips kein Fan des Rassisten und Despoten Chief Parker, und auch sonst erfahren wir viel über Rassismus und Alltag jener Zeit. Als Krimi ist ONE-SHOT HARRY ein bisschen gehuddelt – als Roman über Los Angeles unbedingt lesenswert.
9 Das Schweigen des Wassers
Susanne Tägder legt mit DAS SCHWEIGEN DES WASSERS ihren Debütroman vor, eine einfühlsame, genau beobachtete und beobachtende Erzählung aus den Jahren, als die DDR noch nicht verschwunden war, auf den leeren Flächen am Rande der Dörfer grell bewimpelte Gebrauchtwagenhändler Westautos verramschten und Polizisten als Aufbauhelfer Ost rüber geschickt wurden, um Westgesetze zu etablieren. So einer ist Groth, zu DDR-Zeiten im Westen Kriminalpolizist geworden, jetzt zurück im Heimatort Wechtershagen/Mecklenburg, wo er die Kripo auf Vordermann bringen soll.
In einem längeren Interview, das leider nur den Presseexemplaren beigefügt war, rekapituliert Susanne Tägder ihre eigene Ost-West-Geschichte: Wie die Eltern Neubrandenburg, das Vorbild für Wechtershagen, kurz vor dem Mauerbau verließen, wie ihre Erzählungen Tägders Aufwachsen begleiteten, wie sie nach der Wende dort nach der verlorenen Heimat suchte. Tägder hat ihre Entwurzelungserfahrungen in DAS SCHWEIGEN DES WASSERS eingebracht, entstanden ist ein atmosphärisch dichter Zeitroman über Vertuschungsversuche und Trotz, Angst und Aufrichtigkeit, über den Wert der Erinnerung. Susanne Tägder, die auf Berufserfahrung als Richterin zurückblickt, ist eine starke neue weibliche Stimme „im gehobenen Spannungsbereich“, wie sie, im Literaturbetrieb noch etwas unbeholfen, formuliert. Wir nennen es Krimibestenliste.
10 Hitman (Hammerman. A Walking Shadow)
Mike Nicol, Jahrgang 1951, hat in seinen acht, alle von Mechthild – neuerdings Meredith – Barth übersetzten Kriminalromanen Typen geschaffen, die den unsicheren, abenteuerlichen, leicht paranoiden, aber ebenso leichtfertigen und heimatliebenden Seelenzustand Weißer Südafrikaner spiegeln. Nicols Figuren sind Hasardeure, immer mit einem Bein im Grab, Privatdetektive, die ihre im Genre übliche Unabhängigkeit gegenüber allen staatlichen Institutionen bewahren, welcher Hautfarbe und Kultur auch immer sie sein mögen.
Mit dem Paar Fish Pescado („Fisch“ englisch und portugiesisch) und Vicki Kahn hat er zwei Figuren geschaffen, die in ihrer Leichtigkeit, Unverfrorenheit, aber auch Gelassenheit moderne Ausgaben des Picaros repräsentieren. Das Irrationale, Menschliche, den Schelm in Person.
HITMAN, scheint, vom Ende her, das nicht verraten wird, betrachtet, der fünfte und letzte Teil der Kapstadt-Serie zu sein. „Geheimdienste, deren Einsätze ohne Kontrolle von außen erfolgen, verbocken es letztlich alle ausnahmslos.“ Ein Motto von Stephen Gray, das Chaos, das Nicol entfesselt, präzise zusammenfasst. Die geheimnisvolle Agentin „Stimme“ scheint von ihren freidrehenden Auftraggebern in der Spitze der Regierung abgekoppelt und auf Bereinigungsfeldzug. Ehemalige Geheimdienstkiller werden erneut zum Morden geschickt, andere morden, um ihre Vergangenheit, die irgendwie mit dem Tod Olof Palmes verknüpft ist, zu schützen. In diesem Tohuwabohu der Gewalt versuchen Surfer, Dealer und Gelegenheitsdetektiv Fish und seine schwangere Freundin Vicki, zwischen Gangsterbanden und Geheimagenten am Leben zu bleiben und dabei den Kopf oben zu behalten.
Mike Nicol schreibt trickreiche, moderne Versionen des pikaresken Romans – hoffentlich war HITMAN nicht sein letzter.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE JUNI?
Die KRIMIBESTENLISTE JUNI ist seit Freitag, dem 7. Juni 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Als zweiseitiges PDF vom Deutschlandfunk Kultur gibt es die KRIMIBESTENLISTE JUNI hier.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 5. Juni hat Sonja Hartl über die aktuelle Nummer Eins WAGE ES NUR! gesprochen.
Kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Juni.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Sommertage!
Ihr Tobias Gohlis