DIE KRIMIBESTENLISTE IM OKTOBER: 5 Neue aus drei Ländern. Frankreich, Deutschland, USA
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Yves Ravey, 1953 geborener Autor von 17 Büchern, stellt in DIE ABFINDUNG einen Mini-Noir von gerade mal 110 Seiten vor. Der Autor lebt in Besançon, und dort in der Nähe muss man wohl die Tankstelle von Jean Seghers verorten, an der Route nationale gelegen, im Vergleich zur ersehnten lukrativen Autobahnraststätte ein Verlustgeschäft. Seghers ist bedroht von Insolvenz, seine Frau geht mit dem Mechaniker und vermutlich auch mit dem Handelsrichter fremd, der die insolvente Tanke übernehmen will. Ein Leben voller Demütigung und stiller Duldung, bis Seghers der Kragen platzt, er den Mechaniker samt Tanke in Flammen aufgehen lässt. Jetzt wird gegen ihn ermittelt, mit verblüffendem Ergebnis. Diese Ermittlung erzählt Ravey in Seghers Ich-Stimme genauso trocken und minimalistisch wie die Vorgeschichte, erstaunlich und voller Anspielungen: an den Postmann, der zweimal klingelt, an Anna Seghers; die Versicherungssachbearbeiterin heißt Hunter. Platz 3
Anspielungen auch in Friedrich Anis BULLAUGE: Streifenpolizist Kay Oleander hat ein Auge verloren, ignoriert die Verletzung, will genau so ein guter Polizist sein wie zuvor. Ausgerechnet mit der Frau, die er verdächtigt, ihm bei einer Demo eine Flasche ins Gesicht geworfen zu haben, tut er sich zusammen und spürt mit ihr dem Gerücht nach, ein paar Hinterzimmer-Rechte der „Neuen Volkspartei Deutschland“ planten einen Anschlag. Ein Verschwörungsthriller voller Ambivalenzen. Klar ist nur: Rechtsextreme sitzen überall und schrecken seit 1980, dem Jahr mit den verheerendsten Anschlägen der Nachkriegszeit in der BRD wie Uffa Jensen nachweist, vor keinem Terror zurück. Platz 6
BLUTRODEO, der zweite Roman von Frauke Buchholz mit dem kanadischen Profiler Ted Garner spielt im Titel auf die „Calgary-Stampede“ an, das größte Rodeo-Turnier der Welt. Während in Calgary Massen von Touristen die Straßen verstopfen, droht bereits der dritte todkranke, alte Mann ermordet zu werden. Profiler Garner und Chief Superintendent Samantha Stern – eifersüchtig, neidisch, Einzelgänger – kabbeln sich zur Leserbelustigung bei der Lösung eines verzwickten Falls, der weit zurück führt und in die ökologisch verseuchten Teersandwüsten Albertas. Platz 7
Kompliziert wird es in Sophie Sumburanes aus drei Perspektiven erzählten Thriller TOTE WINKEL. Sumburane lässt darin so gut wie kein heißes Thema aus: Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Zwangsadoption durch die DDR, lesbische Liebe, Transsexualität, Rassismus, Selbstmord, Wahn, Zwangsstörungen, Selbstverstümmelung und -demütigung. Trotz dieser wie einem woken Traktat entnommenen Stofffülle gelingt es Sumburane, einen schlüssigen, wenn auch nicht ganz einfach zu lesenden Roman von komprimierter Kürze vorzulegen, in dem die Zerstörung von Personen durch Gewalt und die zerstörerische Lust an ihr nicht zu Erlösung, sondern zu Vernichtung führt. Platz 9
Ebenfalls tief in den Zerstörungen von Familien steckt Karin Slaughter mit DIE VERGESSENE. 1982 ist die hochschwangere Emily Vaughn ermordet worden, wahrscheinlich, um zu verschleiern, welcher Kerl für die „Schande“ der siebzehnjährigen Schülerin verantwortlich war. Die Monate zwischen Zeugung unter unfreiwilligem LSD-Einfluss und Mord erzählt Slaughter aus Emilys Sicht. Eine zweite Perspektive kommt hinzu, als Andrea Oliver vierzig Jahre später, eben aus der Akademie als US-Marshal entlassen, abgeordnet wird, die Mutter Emilys, des vergessenen Mädchens, zu beschützen. Bundesrichterin Vaughn tat damals alles, um ihren unbefleckten Ruf in der Kleinstadt Longbill Beach zu wahren und von Ronald Reagan ernannt zu werden. Neben dem Schutz der bedrohten Richterin hat Oliver noch den Fall Emily aufzuklären: Ihr Vater Clay, inzwischen kurz vor der Entlassung stehender Psychopath und Serienkiller, gehört zu den Verdächtigen des alten Falles.
Durch Verwicklungen und hohes Tempo spannend. Ich dachte zunächst, der Übersetzer Fred Kinzel sei seiner wortwörtlichen Übertragung wegen ein Roboter, aber nein, die Schlichtheit des Textes ist Slaughters Wirken. Platz 10
Die Krimibestenliste Oktober ist seit Freitag, dem 7. Oktober, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden. Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder hören. Die Rezensionen sind auch online nachzulesen. Bereits am Freitag morgen habe ich bei Deutschlandfunk Kultur über DIE ABFINDUNG als höchsten Neueinstieg gesprochen.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag. Dank auch an die Redaktion von weltexpresso , die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Sonnige Herbsttage
Ihr Tobias Gohlis